Armutsfalle Alter

Viele Rentner in Berlin können trotz Wohngeld ihre Miete kaum bezahlen.

  • Claudia Krieg
  • Lesedauer: 4 Min.

Ich bin Kleinrentnerin mit Wohngeld, nenne mich aber lieber autonome Alte«, lacht Eva Willig und nimmt einen Zug von ihrem Zigarillo. Sie sitzt in einem kleinen Café in Neukölln und redet über ein Problem, das nicht nur in Berlin viele Menschen beschäftigt: drohende Altersarmut.

Die 71-Jährige engagiert sich seit vielen Jahrzehnten lokalpolitisch für soziale Belange. Das ist auch an ihrem Anstecker »Gemeinsam gegen den Mietenwahnsinn« zu sehen, den sie an ihrem roten Pullover trägt. Die Zwangsräumungen, die täglich in Berlin stattfinden, gehen ihr besonders nahe, sagt sie. Am Tag zuvor hat Willig mit 100 anderen Menschen gegen die Rodung von Uferbüschen an einem Neuköllner Abschnitt des Landwehrkanals protestiert.

Willig möchte, dass mehr über Altersarmut, vor allem bei älteren Wohngeldempfänger*innen, gesprochen wird. Denn Wohngeld, in Verbindung mit kleinen Rentenbeträgen, reiche oft hinten und vorne nicht, sagt die Rentnerin. Sie selbst bezieht knapp 869 Euro Rente und dazu 66 Euro Wohngeld. »Meine Miete beträgt aber 477 Euro«, erzählt Willig. »Und eine Heizungszulage, wie bei der AV Wohnen, gibt es nicht.« Die sogenannte Ausführungsvorschrift Wohnen, kurz AV Wohnen, sieht seit Oktober angehobene Richtwerte für die Übernahme der Wohnkosten für Haushalte vor, die Grundsicherungsleistungen beziehen, also für Empfänger*innen von Hartz IV, Sozialhilfe und Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Mit den gestiegenen Mietzuschüssen passt der Senat die Richtwerte an den im Mai veröffentlichten Berliner Mietspiegel 2019 an. Für Alleinlebende beträgt der neue Richtwert für die monatliche Bruttokaltmiete zum Beispiel 421,50 Euro. Zusätzlich ist es möglich, einen Klimabonus für energetisch sanierte Wohnungen zu erhalten. »Die neue AV Wohnen ist gut«, findet auch Eva Willig. »Aber sie schafft auch zwei unterschiedliche Armutsstandards für ähnliche Gruppen von alten Menschen.« In ihren Augen sind die Wohngeldempfänger*innen im Rentenalter deutlich schlechter gestellt. Von den insgesamt 19889 Wohngeldempfänger*innen in Berlin sind 10814 Rentner*innen.

»Viele alte Menschen scheuen sich grundsätzlich vor der Beantragung von Leistungen«, weiß Juliane Peters von der Caritas Beratungsstelle in Lichtenberg. Das liege einerseits an ihrem eingeschränkten Gesundheitszustand - viele würden allein schon die Wege nicht schaffen, die mit einer Antragstellung einhergehen. Viele würden die Grundsicherung auch deshalb nicht beantragen, weil sie in den Bedürftigkeitsprüfungen einen Eingriff in ihre Privatsphäre und eine Einschränkung ihrer verbliebenen Freiheiten vermuten. »Wenn man mit dem Bezug der Grundsicherung nicht einmal mehr das Auto behalten darf, das wenigstens noch ein Minimum Autonomie gewährleistet, finde ich das auch verständlich«, so die Caritas-Mitarbeiterin.

Besonders dramatisch, so Peters, sei die Situation für diejenigen, die neben ihrer kleinen Rente und der Grundsicherung in einer privaten Krankenkasse versichert sind - aus der sie nicht mehr austreten können. »Je kränker diese alten Menschen sind, desto weniger können sie Behandlungen und Medikamente bezahlen, die sie benötigen, daran ändert auch das Prinzip der Rückerstattung nichts«, so die Sozialberaterin. Beim Wohngeld sei es wiederum so, dass viele alte Menschen gar nicht wüssten, dass es ihnen zusteht und es dementsprechend gar nicht erst beantragen, sagt Juliane Peters.

Das bestätigt auch Martyna Voß vom Verein Soziale Gesundheit. Sie macht in bislang fünf Arztpraxen in Lichtenberg aufsuchende Sozialberatung. Seit 2013 hat der Verein allein in Lichtenberg 14 000 pflegebedürftige Menschen über 80 Jahre erfasst - alle ohne Pflegegrad, ein Viertel von ihnen alleinlebend. Der Großteil, so Voß, habe »Riesenprobleme, zu überleben«, könne die Miete kaum bezahlen und sei bei Lebensmitteln unterversorgt. »Diese Menschen sind unsichtbar. Sie fallen erst auf, wenn sie nicht mehr zum Arzt kommen«, sagt die Ärztin. Zur Einsamkeit komme Überforderung: »Keiner von ihnen weiß von der Möglichkeit, soziale Leistungen zu beantragen«, berichtet die Ärztin. In den Praxen könne man alte Menschen aktiv erreichen und bei medizinisch und pflegerischer Versorgung, Betreuungsverfügungen und Pflegegeld unterstützen. Damit würden auch die Ärzt*innen entlastet.

Um sich den Schwierigkeiten rund um den Leistungsbezug zu entziehen, arbeiten viele alte Menschen - wenn sie es noch können - nach ihrem Renteneintritt einfach weiter. »Das ist nicht hinnehmbar. Wir brauchen einen Mindestlohn, der vor Altersarmut schützt und eine armutsfeste Rente. Andernfalls führt die Erwerbsarmut von heute in die Altersarmut von morgen«, sagt dazu Sozialsenatorin Elke Breitenbach (LINKE).

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