Edle Einfalt, geschwätzige Größe
Karen Köhlers Roman »Miroloi« überzeugt weder als formales Experiment noch als Fantasy
Bei der Vorstellung einer Geschichte empfiehlt es sich oft, mit dem Gegenstand der Erzählung, den Figuren und dem Handlungsverlauf zu beginnen. In Karen Köhlers Roman »Miroloi« steht allerdings die Erzählerinnenstimme als Mittel und Effekt derart im Vordergrund, dass zunächst von ihr die Rede sein muss.
Es handelt sich um die Stimme einer Heranwachsenden, die in der von ihr geschilderten Gemeinschaft als Außenseiterin geduldet ist. Die Gemeinschaft besteht aus einer kleinen Siedlung in einem vage mediterranen Setting, das gegenüber der uns vertrauten Welt seltsam rückständig wirkt; und tatsächlich ist bald davon die Rede, dass es Grenzen gebe, dass dieser Ort bei Strafe nicht verlassen werden dürfe, dass aber ein Außen existiere, aus dem medizinische Versorgung, abgelegte technische Geräte und vereinzelt Nachrichten aus der größeren Welt hereinkämen. Die Erzählerin berichtet von diesem in Zeit, Raum und Sozialstruktur hierarchisch gegliederten Ort durchaus als Locus amoenus, soweit es die Natur und den behaglichen Rhythmus des Zusammenlebens betrifft; als hinterwäldlerisch, aber auch im Sinne von Sitten und Gebräuchen, wenn es um ihre Behandlung als Kind einer Fremden und überhaupt als junge Frau geht; zeichnet sich der Handlungsschauplatz doch durch eine strenge, geradezu vorsintflutliche Geschlechtertrennung aus, in der Mädchen und Frauen der Zugang noch zu den grundsätzlichen Bildungsinhalten verwehrt ist, während die Jungen eine Auslese erwartet, in deren Verlauf die Klügsten und Begabtesten herausgefunden und sogar an die »Welt draußen« übergeben werden.
Ein fantastisch anmutendes Setting also, das neben Märchen und Mythen auch an modernere derartige Versuchsanordnungen erinnert, Technologiegefälle, Sozialstruktur und eben den Ort und die Möglichkeiten des Sprechens zusammenzudenken; die zeitgenössische amerikanische Fantasy ist, häufig mit dezidiert feministischer Zielsetzung, voll davon, als Beispiele seien ihr derzeitiger Superstar N. K. Jemisin mit ihren »Broken Earth«-Büchern genannt, Nnedi Okrafor oder, in Europa vielleicht noch bekannter, Margaret Atwood. Die Autorin, um zum herausstechenden Textmerkmal zurückzukehren, führt uns diese Welt konsequent vom Standpunkt einer formal ungebildeten, aber mit wacher Intelligenz und Empfindungsfähigkeit begabten Erzählerin vor. Das titelgebende »Miroloi« ist ein von Frauen gesungenes Totenlied der orthodoxen Kirche; und tatsächlich bemüht sich Köhler, einen singenden, deklamierenden, rhapsodischen Text entstehen zu lassen, dessen wiederkehrende Merkmale der Katalog, die Aufzählung, die Wiederholung, die Synonymisierung sind, die Kontrastierung - siehe, hier sind die Berge, dort ist das Meer - sowie immer wieder überraschende, der rousseauschen Unverbildetheit der Erzählerin entsprungene Bilder und Vergleiche.
Leider funktioniert diese Versuchsanordnung nicht besonders gut; einmal, weil Köhler ihre formalen Mittel nach wenigen Seiten verschossen hat und das große Klagelied zusehends in Monotonie versumpft. Einzelne gelungene Passagen und tatsächlich leuchtende Bilder täuschen nicht darüber hinweg, dass der Autorin, auf die Länge des Romans gesehen, zu wenig mit dieser Stimme einfällt und ihr vor allem die Dramaturgie, die so ein musikalisches Epos eben auch braucht, entgleitet. Länge und Lähmung dürfen natürlich auch für das Publikum spürbar werden, vor allem bei einem Text, der seine formalen Aspekte so in den Vordergrund stellt wie »Miroloi« - aber der Effekt ist recht bald erreicht, ohne dass sich im Buch eine andere Tonlage einstellen würde. Ganz unprofessionell formuliert: Es nervt.
Nun haben literarische Texte gewiss das Recht, anstrengend und sogar nervtötend zu sein. Man muss gar nicht, um im textlichen Mittelmeerraum zu bleiben, mit »Ulysses« um die Ecke kommen; schon ein »Blumen für Algernon«, ein mit Köhlers Roman in der Anlage vergleichbarer Text, fordert mit dem weit von der Normsprache entfernten Erzähler dem Publikum einiges ab, mit dem Unterschied freilich, dass dessen Autor Daniel Keyes die nötigen formalen und inhaltlichen Wendungen einfallen, um diese Stimme zu modulieren und zu transponieren. Experimente mit höchster Verstrahlungsgefahr müssen sich lohnen, indem sie Energie freisetzen. »Miroloi« gleicht da eher einem schwarzen Loch. Um gewissermaßen von der anderen Seite der Versuchsanordnung her zu überzeugen, also von der Fabel, dem Worldbuilding, wie es ein fantastischer Text eben auch verlangt, ist auch dieser Textaspekt zu schwach auf der Brust. Das geschilderte Setting bleibt zu sehr im Ungefähren, um, wie es Aufgabe eines Fantasyromans wäre, eine fiktive Alternative zu unserer Welt sinnfällig zu machen.
Um das Experiment zu retten, hätte es einer wesentlich genaueren Begleitung, sprich: Lektorats, bedurft, die die Autorin vor dem das Buch durchziehenden Missverhältnis von Angestrebtem und formalen Mitteln bewahrt hätte, was im Übrigen eine gängige Definition von Kitsch ist; und höherer Kitsch, das muss man leider so hart sagen, ist über weite Strecken auch Köhlers Klagegesang einer Hochnaiven.
Karen Köhler: Miroloi, Hanser, 464 S., geb., 24 €.
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