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Comeback aus der zweiten Reihe
Expräsidentin Cristina Kirchner tritt bei den Präsidentschaftswahlen als Vize von Alberto Fernández an
»Cambio, Cambio!« Es sind keine Wahlaufrufe für Argentiniens neoliberalen Präsidenten Mauricio Macri, die im Stadtzentrum von Buenos Aires an jeder Ecke zu hören sind. Zwar heißt Macris Wahlbündnis 2019 Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel) und nicht mehr wie 2015 Cambiemos (Lasst uns verändern), aber die »Cambio, Cambio!« Rufe sind ein Ausdruck der tiefen Krise, in die Macri das südamerikanische Land manövriert hat: Es lohnt sich offenbar wieder, den Peso gegen den Dollar oder den Euro jenseits vom offiziellen Kurs zu tauschen.
Weil Argentiniens Regierung die Devisen ausgingen, verhängte sie am 1. September, einem Sonntag, ein Dekret, wonach große Exporteure künftig eine Erlaubnis der Notenbank für den Kauf von Fremdwährungen und zur Überweisung von Devisen ins Ausland einholen müssen. Damit hat Macri einen drastischen Kurswechsel vollzogen. 2015 hatte er versprochen, die »von der Vorgängerregierung bevorzugten Kontrollen aufzugeben«.
Macris Kurswechsel wider seine neoliberalen Überzeugungen hatte einen simplen Grund. Allein in den vier Jahren seiner Amtszeit wird die Kapitalflucht auf 75 Milliarden US-Dollar geschätzt. Die Wirtschaft liegt insgesamt am Boden: Die Inflation liegt dieses Jahr bei über 50 Prozent und Banken, die sich bei der Zentralbank frisches Geld beschaffen wollen, müssen dafür mehr als 70 Prozent Zinsen zahlen. Unternehmen gehen reihenweise in Konkurs, es gibt Massenentlassungen, und ein gutes Drittel der Argentinier*innen lebt unter der Armutsgrenze - fast 16 Millionen. Allein 2018 sollen etwa 3,4 Millionen Menschen in die Armut abgerutscht sein. Im Kampf gegen die Armut - eines seiner zentralen Wahlversprechen - ist Mauricio Macri spektakulär gescheitert.
Macris Scheitern eröffnet seiner Vorgängerin Cristina Kirchner die Chance zur Rückkehr in den Regierungssitz Casa Rosada. Das verdankt sie neben der schlechten Performance von Macri auch einem innerperonistischen Schulterschluss. Alberto Fernández hatte das strategische Dilemma der Peronisten vor geraumer Zeit auf den Punkt gebracht: »Ohne Cristina geht es nicht und mit Cristina reicht es nicht.« Cristina ist Cristina Fernández de Kirchner, und das Dilemma besteht darin, dass sie das Land polarisiert, aber auch auf der linken Seite mobilisiert wie derzeit kein anderer Politiker und keine Politikerin. Cristina Kirchner selbst rief im Mai in einer wohlinszenierten Videobotschaft ihren vormaligen Kabinettschef Alberto Fernández als Präsidentschaftskandidaten aus - sie selbst werde nur als Vizekandidatin antreten.
Zum anderen wurde ein breites Bündnis Frente de Todos (Front von allen) innerhalb des peronistischen Lagers angestrebt. Und dabei ist Fernández ein Coup gelungen, der Kirchner kaum gelungen wäre: Er holte Sergio Massa wieder ins Boot. Der Rechtsperonist war 2015 maßgeblich mitverantwortlich für die Spaltung des peronistischen Lagers in zwei Blöcke und somit für den Wahlsieg Macris. »Wir haben uns in der Diversität vereint, nicht, um uns gleichzumachen«, gab Alberto Fernández die Parole aus.
Der 60-Jährige ist kein Vertreter des linken Flügels, sondern ein Zentrumsperonist und gewiefter Verhandler, der nach allen Seiten offen ist. Ihm wird ein guter Draht zur Partei- und Gewerkschaftsbürokratie nachgesagt und auch zum mächtigen Medienkonzern Clarín. Er tourte zuletzt durch Europa und traf sich mit den sozialdemokratischen Regierungschefs in Spanien, Pedro Sánchez, und Portugals, António Costa. Das zeigt in etwa seinen geplanten politischen Kurs an: Abkehr von Austerität und neoliberaler Deregulierung, Hinwendung zu einer sozialdemokratischen Politik. Und er hat auch schon klar gemacht, dass die von Macri um über 100 Milliarden auf 334 Milliarden US-Dollar hochgetriebenen Staatsschulden neu verhandelt werden müssen. Denn sonst werden erneut die Armen und die Mittelschicht die Zeche zahlen. Drei Viertel der Schulden laufen auf Fremdwährungen, angefangen vom höchsten Kredit in der Geschichte des Internationalen Währungsfonds über 57 Milliarden Dollar aus dem Jahr 2018.
In Argentinien benötigt man für einen Wahlsieg im ersten Durchgang mehr als 45 Prozent oder 40 Prozent plus zehn Prozentpunkte Vorsprung. Beste Aussichten, bereits im ersten Wahlgang zu gewinnen, hat das Duo Fernández/Kirchner. Laut einer Wahlprognose von Mitte September liegt es mit 53 Prozent derzeit mehr als 21 Prozentpunkte vor Macri mit seinem Kandidaten für das Vizepräsidentenamt Miguel Ángel Pichetto.
Und wie schwer es ist, deutliche Rückstände aufzuholen, musste am Dienstagabend in Buenos Aires der Verein feststellen, über dessen Präsidentschaft von 1995 bis 2007 Mauricio Macri seine politische Karriere vorbereitete: Boca Juniors gewann zwar das Rückspiel im Halbfinale der südamerikanischen Champions League Copa Libertadores gegen River Plate mit 1:0, doch das reichte nach dem 0:2 im Hinspiel gegen den Erzrivalen und Titelverteidiger nicht zum Weiterkommen. Und es macht die Wunde vom aus Sicherheitsgründen nach Madrid verlegten und von Boca verlorenen Finale Ende 2018 noch größer.
Macri hat im Moment viel zu verschmerzen, aber immerhin ein historisches Trostpflaster ist in Sicht. Wenn er bis zur Regierungsübergabe am 10. Dezember schafft, hat er als erster gewählter nicht-peronistischer Präsident in Argentinien das Ende seiner Amtszeit erreicht. Das galt seit Juan Peróns Wahlsieg 1946, dessen Erbe viele von rechts bis links bis heute rund um die peronistische Gerechtigkeitspartei PJ reklamieren.
Die Recherchereise unseres Autors wurde unterstützt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
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