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Massenprotest nach 30 Jahren Frustration
Martin Ling über die soziale Ungleichheit in Chile
Lateinamerikas neoliberaler Musterschüler hat den Bogen der Ungleichheit überspannt: Anders lassen sich die seit einer Woche andauernden Massenproteste in Chile nicht erklären. »Es geht nicht um 30 Pesos, es geht um 30 Jahre«, lautet einer der auf den Demos gerufenen Slogans, die trotz Ausnahmezustand und nächtlicher Ausgangssperre anhalten.
Es sind nicht die 30 Pesos mehr für ein U-Bahn-Ticket, das nun umgerechnet 1,06 Euro statt 1,02 Euro kostet und damit weit mehr als die 29 Cent im benachbarten Argentinien. Das hat zuerst die von der Preiserhöhung sogar ausgenommenen Schüler*innen auf die Barrikaden getrieben, denen sich Studierende und Menschen aus allen Schichten bis auf die Oberschicht angeschlossen haben.
Es geht in Chile in der Tat um die Folgen von 30 Jahren neoliberaler Politik, die nach Ende der Pinochet-Diktatur (1973 bis 1990) nahezu bruchlos fortgesetzt wurde. Strom, Wasser, Bildung, Gesundheits- und Rentensystem wurden unter General Augusto Pinochet privatisiert. Die sozialen Strukturen des demokratischen Sozialismus, aufgebaut unter Salvador Allende, wurden zerschlagen. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Das neoliberale Modell hat dem Land auf der Makroebene durchaus beträchtliche Wachstumsraten verschafft - die sozialen und ökologischen Kosten fallen dabei auch in Chile unter den Tisch. Im durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommen liegt Chile in Südamerika inzwischen vorn, hat den einst weit reicheren Nachbarn Argentinien überholt. Doch was hilft ein durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen von laut Weltbank über 23 000 US-Dollar pro Jahr den 80 Prozent Rentner*innen, die sich mit monatlichen Pensionen unterhalb des Mindestlohnes von umgerechnet 373 Euro bescheiden müssen? Nichts.
In Chile ist die Frustration über 30 Jahre Demokratur explodiert, über den Übergang von der Diktatur zu einer deformierten Demokratie mit extrem großer sozialer Ungleichheit. Sie macht sich nicht zuletzt an einem Bildungssystem fest, das keine Chancengleichheit bietet. Wer mangels reicher Eltern auf eine öffentliche Schule mit schlechtem Ausbildungsniveau gehen muss, hat schon vor dem Studium verloren. Es sind die jungen Menschen, die die Angst vor der Repression verloren haben. Sie standen am Anfang der Proteste und sind nun der Kern. Für den Multimillionär und Präsidenten Sebastián Piñera wird es eng. Das Militär, das erstmals seit dem Ende der Diktatur wieder auf den Straßen patrouilliert, ist keine Antwort und seine Reformvorschläge sind halbherzig. So wird er nicht durchkommen. Und das ist gut so.
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