Worauf warten wir noch?

Spanische Schüler sammeln auf ihrer Reise nach Buchenwald Erfahrungen aus erster Hand

Karen Solórzano hält am 6. April umgeben von ihren Reisegefährten den Schlussappell auf dem Appellplatz von Buchenwald.
Karen Solórzano hält am 6. April umgeben von ihren Reisegefährten den Schlussappell auf dem Appellplatz von Buchenwald.

Die letzten Worte in der Schlussrede von Karen Solórzano waren nicht im abgesegneten Text vorgesehen, in dem »Buchenwald-Jugend Manifest 6. April 2025«, das die spanischen Schüler*innen für ihre Reise ins KZ Buchenwald erarbeitet hatten und dessen Verlesung durch sie in das offizielle Programm der Gedenkstätte aufgenommen wurde. Die Schülerin sprach vom Krieg in der Ukraine und dem Genozid in Palästina und darüber, dass aus Buchenwald Lehren gezogen werden müssten und schloss mit »!No pasarán!«, dem Schlachtruf des republikanischen Lagers im spanischen Bürgerkrieg: Sie werden nicht durchkommen!

Wegen dieser Schlussworte gab es Beifall und Buhrufe auf dem ehemaligen Appellplatz des Lagers Buchenwald an diesem Sonntagnachmittag. Der Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, Jens-Christian Wagner, intervenierte direkt im Anschluss: Es müsse um die unschuldig Getöteten im Gazastreifen getrauert werden können – aber von einem »Genozid« zu sprechen, gerade an einem Ort wie Buchenwald, gehöre sich nicht.

Die Lehren aus Buchenwald

Solórzano, die aus dem Madrider Arbeiterviertel Vallecas stammt, sieht das anders: »Beim Programm wurde viel zurückgeschaut, ohne die Verbindung zu aktuellen Menschheitsverbrechen zu ziehen«, erklärt sie dem »nd«. Darauf hat sie beim Verlesen des Jugendmanifests explizit hinweisen wollen: »Aus Buchenwald müssen Lehren gezogen werden – man muss auch heute laut werden bei Ungerechtigkeiten – ob beim Ukraine-Krieg oder beim Genozid in Palästina.«

Die Reise der spanischen Schüler*innengruppe wurde von der Amical Buchenwald (Freundschaftskreis Buchenwald) organisiert, die Kosten vom spanischen Kulturministerium übernommen. Die in Katalonien ansässige Nichtregierungsorganisation leistet und koordiniert die Erinnerungsarbeit zu den republikanischen Spaniern, die in das KZ verschleppt wurden. An der Reise vom 3. bis 8. April nahmen 23 Schüler*innen aus den Regionen Baskenland, Navarra, Valencia, Katalonien und Madrid teil, unter ihnen die 17-jährige Solórzano. »Die offiziellen Reden und der offizielle Diskurs beim Programm hier in Deutschland sind nicht auf den Zweck dieser Reise ausgerichtet, die dem antifaschistischen Kampf und dem Kampf für die Freiheitsrechte heutzutage gewidmet ist.« Diesen Widerspruch habe sie öffentlich zum Ausdruck bringen wollen, so die Gymnasiastin.

Unmenschliche Bedingungen

Das Reiseprogramm führte bereits am ersten Tag in die KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora nördlich von Nordhausen. Dorthin, wo einst in der unterirdischen Stollenanlage KZ-Häftlinge Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie leisten mussten. Monatelang mussten die Häftlinge in den Stollen schlafen. Für Dionisio Beltre Del Leon war der Besuch ein einprägsames Erlebnis. Die Tunnel in Dora haben ihn am meisten beeindruckt. »Die Vorstellung, dass die Häftlinge da untergebracht waren, nicht raus konnten … Das war sehr traurig zu sehen, diese unmenschlichen Bedingungen, die bis hin zu Kannibalismus an Leichen geführt haben sollen.« Auch die Verbrennungsöfen haben ihn erschüttert, erzählt der 17-jährige Gymnasiast aus Vallecas dem »nd«.

Seit 1936 war die Stollenanlage als unterirdisches Treibstofflager für die Wehrmacht angelegt worden. »Ab Herbst 1943 mussten KZ-Häftlinge das Stollensystem für die Montage von V2-Raketen ausbauen. Vier Querkammern, von denen heute drei besichtigt werden können, dienten in der Anfangszeit des Lagers als ›Schlafstollen‹ für jeweils mehrere Tausend Häftlinge, die sich auf notdürftig eingebauten vierstöckigen Holzpritschen drängten. Die hygienischen Bedingungen waren katastrophal. Mehrere Tausend Häftlinge starben bereits in den ersten Monaten«, heißt es auf der Website der Stiftung Gedenkstätten, die sich Buchenwald und Dora-Mittelbau widmet. Die Ausbauphase ab 1943 prägte »mit ihren mörderischen Lebens- und Arbeitsbedingungen den Begriff von der ›Hölle von Dora‹, der sich später in den Erinnerungsberichten vieler Überlebender findet«.

Die Ausstellung in Dora-Mittelbau ist seit 1999 unter Tage zu sehen und wurde seit Sommer 2022 überarbeitet. Mithilfe einer zurückhaltenden Gestaltungssprache soll den Besucher*innen anhand sparsam und gezielt gesetzter visueller Anker die Einordnung des historischen Ortes ermöglicht werden.

Auch Arianne Casado Lusa aus dem Baskenland ist beeindruckt: »Es ist sehr bewegend, durch ein Konzentrationslager zu gehen und zu begreifen, was dort passiert ist, dass hier Tausende von Menschen gestorben sind. Man sieht sich die Fotos an und sagt sich, dass man die Geschichte kennen muss, damit sie sich nicht wiederholt.« Wissen über Konzentrationslager hat die 15-Jährige aus dem Unterricht: »In meiner Schule in Barakaldo, in der baskischen Provinz Vizcaya, kam das Thema Konzentrationslager immer wieder zur Sprache, weil mehrere Menschen aus Barakaldo und Umgebung in deutschen Konzentrationslagern landeten. Daher rührt auch mein Interesse. Aber meine Familie war nicht betroffen.«

Bewusstseinbildende Reise

Nicht nur Dionisio und Arianne machten auf dieser Reise prägende Erfahrungen. Nacho Canela Segura aus der südlich von Barcelona gelegenen katalanischen Stadt Gavà schätzt seine Erfahrungen in Weimar und Umgebung: »Die Reise erscheint mir sehr bewusstseinbildend, aus erster Hand zu erfahren, was sich in den Konzentrationslagern hier abgespielt hat, mit Zeitzeugen zu sprechen, die Motive hinter den Verbrechen zu verstehen, ist super wichtig für junge Leute wie uns. Gerade jetzt, wo ultrarechte Ideologien sich immer stärker verbreiten. Dass Ultrarechts keine Lösungen für die Menschen bietet, zeigt die Vergangenheit. Man muss das Leben für etwas Positives leben, nicht dafür, einen Feind zu haben«, sagt der 17-Jährige dem »nd«.

Auch das Buchenwald-Jugend-Manifest, das die spanischen Jugendlichen gemeinsam erarbeitet haben, knüpft an Canelas Einsichten an: »In Zeiten wie diesen kommen wir nicht umhin, an Deportierte wie Jorge Semprún, spanischer Schriftsteller und Opfer dieses Lagers, zu denken, der betonte, dass er verhaftet wurde, weil er ein freier Mensch war, weil er das Bedürfnis verspürte, seine Freiheit auszuüben und sie anzunehmen.«

Semprún wurde Ende Januar 1944 ins KZ Buchenwald deportiert. Dort gehörte er der illegalen Widerstandsorganisation der Spanier an. Nach der Niederlage der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg 1939 gegen den Faschisten Francisco Franco konnten viele republikanische Soldaten nach Frankreich flüchten. Rund 100 000 kämpften dort gegen die Nazis weiter, kamen aber nach der deutschen Invasion 1940 schnell ins Visier der Machthaber. Darunter auch der junge Kommunist Semprún, der 1943 in Auxerre von der Gestapo verhaftet und wochenlang gefoltert wurde, bevor er in Buchenwald landete – bis zur Befreiung und Selbstbefreiung am 11. April. Selbstverständlich stand die Eröffnung der Ausstellung »Jorge Semprún – Ein europäisches Leben im 20. Jahrhundert« am 6. April im Festsaal des Weimarer Rathauses auf dem Besuchsprogramm. Unter Beisein des linken spanischen Kulturministers Ernest Urtasun.

Semprún, der 2011 starb, schrieb in seinen Büchern immer wieder über sein Leben und Überleben in Buchenwald und sprach sich stets gegen jede Form politischer Gewaltherrschaft aus. Ob als Schriftsteller oder spanischer Kulturminister, immer formulierte er seine Vorstellung von einem demokratischen und geeinten Europa, für das er sich einsetzte. »Eine der wirksamsten Möglichkeiten, der Zukunft eines vereinten Europas, besser gesagt, des wiedervereinten Europas einen Weg zu bahnen, besteht darin, unsere Vergangenheit miteinander zu teilen, unser Gedächtnis, unsere bislang getrennten Erinnerungen zu einen.«

Maßgeblichen Einfluss auf das Zustandekommen der Reisen hat Enric Garriga. Der Katalane ist Präsident der 2021 gegründeten Amical Buchenwald mit Sitz in der Küstenstadt Vilanova i la Geltrú südlich von Barcelona. Garrigas Vater, Marcel-lí Garriga Cristià, Hauptmann der republikanischen Armee, war Gefangener im KZ Buchenwald und überlebte wie Semprún. Sie gehörten zu den Überlebenden unter den 643 von den Nazis als »Rotspanier« Gebrandmarkten in Buchenwald. Von den gut 10 000 spanischen KZ-Häftlingen von Mauthausen, über Dachau, Sachsenhausen bis hin zu Buchenwald wurden rund 5500 ermordet oder starben infolge der Zwangsarbeit. Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück waren 300 Spanierinnen eingesperrt. In Buchenwald starben insgesamt etwa 56 000 Menschen aus rund 50 Ländern.

Für Enric Garriga ist der Schwur von Buchenwald am 19. April 1945 Verpflichtung: »Wir werden den Kampf erst aufgeben, wenn der letzte Schuldige vom Gericht aller Nationen verurteilt ist. – Die endgültige Zerschmetterung des Nazismus ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ideal.« Diese Aufgabe ist noch nicht erledigt, sagte Garriga bei der Ehrung der deportierten republikanischen Soldaten am Block 45 in Buchenwald am 6. April. Die spanischen Schüler*innen pflichten ihm bei. »Buchenwald zeigt exemplarisch, wozu Menschen fähig sind, was Menschen anderen Menschen antun können. Einfach weil diese anders denken, einer anderen Gruppe angehören. Das ist schrecklich. Buchenwald lehrt, dass sich ein solcher Horror nicht wiederholen darf«, sagt Dionisio.

Der Widerstandskämpfer und Buchenwald-Häftling Stéphane Hessel hatte 2011 in seiner Streitschrift »Empört Euch!« zum friedlichen Widerstand gegen die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft aufgerufen. Auf ihn berufen sich die spanischen Jugendlichen in ihrem Buchenwald-Manifest: »Stéphane Hessel rief uns zur Empörung auf, und sein Begleiter, Jorge Semprún rief uns auf, uns zu bilden, zu organisieren zu handeln.« »Worauf warten wir noch?« sind die letzten Worte des Manifests, Karen Solórzano hat sich das mit ihren aus Überzeugung frei gewählten Schlussworten zu Herzen genommen: »No pasáran!«

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