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»Soziale Ungerechtigkeit und ökologische Herausforderungen müssen wir gemeinsam auf EU-Ebene angehen«
Brexit und wie weiter? – darüber wurde bei der jüngsten Veranstaltung von »Europa im Salon« debattiert.
Fast bis auf den letzten Platz sind die Stühle im Lesecafé Babett am Donnerstagabend besetzt. Zum bereits vierten Mal findet die Veranstaltung »Europa im Salon« am Franz-Mehring-Platz in Berlin statt. Menschen quer durch alle Altersgruppen hören zu, als Gabi Zimmer, ehemalige Fraktionschefin der Linken im Europäischen Parlament, und der gebürtige Brite Jon Worth, EU-Blogger und Aktivist bei »British in Germany«, über Neuwahlen und den EU-Austritt Großbritanniens diskutieren.
Was ihm an jenem Abend des 23. Juni 2016, als Großbritannien für den Brexit stimmte, durch den Kopf ging? Worth, der Politik und Philosophie studierte und seit vielen Jahren in Berlin lebt, muss nicht lange nachdenken: »Verdammt, ich muss so schnell es geht deutscher Staatsbürger werden!«, erinnert sich der Brite. Wie Worth ging es Zehntausenden Menschen. Heute sei die Situation für Briten und Britinnen in EU-Staaten allerdings um einiges einfacher als dies umgekehrt der Fall sei. »In Berlin ist die Situation besonders gut«, sagt Worth, der kurz nach dem Votum eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in der Hauptstadt erhielt.
Nach dem ersten Schock gewann Worth aber auch immer mehr Verständnis für das Votum seiner Landsleute. »Die Kampagne von Nigel Farage basierte einfach nur auf Lügen«, sagt der Brite heute. Es sei vor allem ein Votum gegen die reichen Eliten in London gewesen. Die Menschen seien frustriert über die steigende soziale Ungerechtigkeit gewesen. »Dem gegenüber stand eine sehr diffuse Vorstellung von einem Brexit. Niemand wusste, was das bedeuten würde. Es gab überhaupt keinen Plan.« Den gebe es inzwischen. Ebenso wie eine reale Vorstellung davon, was ein Austritt aus der EU eigentlich bedeutet. Ein zweites Referendum könnte deshalb wohl ganz anders ausgehen, meint Worth.
An die Zeit vor dem ersten Brexit-Votum kann sich auch Gabi Zimmer noch gut erinnern. Der Höhepunkt der Eurokrise war noch nicht abgeklungen; eine Debatte darüber, ob einzelne Staaten – etwa Griechenland – aus der Währungsunion aussteigen können, in vollem Gange. »Schon damals hat die EU immer mehr Zugeständnisse gegenüber dem damaligen britischen Premierminister David Cameron gemacht, um ein Austritts-Votum zu verhindern«, erklärt die Politikerin. Mit den Zugeständnissen habe man sich aber auch immer weiter wegbewegt von der Idee eines sozialen Europas, sagt Zimmer heute.
Daran habe sich auch nach dem Votum wenig geändert. In den Brexit-Verhandlungen hätten sich die anderen Fraktionen im EU-Parlament hauptsächlich mit den Finanzen befasst, so Zimmer. »Die linke Fraktion hat sich dahingegen immer für die Rechte der EU-Bürger in Großbritannien und umgekehrt eingesetzt«, erklärt die Politikerin.
Und wie geht es nun weiter? Bei Umfragen zu den Neuwahlen des Unterhauses im Dezember liegt Premier Boris Johnson nach wie vor klar vor Jeremy Corbyns oppositioneller Labour-Partei mit ihrer ambivalenten Haltung zum Brexit. Corbyn selbst hatte sich immer wieder gegen einen Verbleib im Binnenmarkt ausgesprochen. Gleichzeitig will die Labour-Partei eine Zollunion mit der EU vereinbaren. Zimmer wünscht sich vom Labour-Chef deshalb vor allem eine klarere Haltung. »Ich will weder die EU noch Nationalstaaten heilig sprechen«, so Zimmer. Dennoch brauche es politische und gesellschaftliche Veränderung in der EU. »Corbyn sollte klar machen: Soziale Ungerechtigkeit und ökologische Herausforderungen müssen wir gemeinsam auf EU-Ebene angehen«, meint Zimmer. Für den Briten Worth ist Corbyn vor allem nicht die richtige personelle Besetzung: »Er ist kein Teamplayer und kommt auch bei der Presse und im Unterhaus nicht gut an.«
Gewinnt Johnson, wird es keine Zollunion geben. Sein Deal sieht nach dem Austritt lediglich Verhandlungen über Freihandelsabkommen vor. »Das könnte aber Jahrzehntelang dauern«, stellt Zimmer fest. Mit 25 000 Menschen, die jeden Tag zwischen Nordirland und Irland pendeln und Milliarden an Warenströmen, die täglich zwischen Großbritannien und der EU fließen, bleibt die Situation also schwierig.
Fast verwunderlich scheint es da, dass sich die Diskutanten am Ende des Abends dann doch recht zuversichtlich zeigen: Ob er glaubt, dass das Beispiel Brexit nun in Europa Schule machen wird? »In Meinungsumfragen ist die EU so populär wie seit zwanzig Jahren nicht«, meint Worth. Nach dem ganzen Brexit-Chaos würden viele jetzt »vorsichtshalber lieber doch drinbleiben« wollen, analysiert der Blogger. Nur die Frage, wie es denn nun mit der EU weitergeht, bleibt auch an diesem Abend offen.
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