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Peter Hacks als platonisch geliebter Übervater
Christian Schneider hat eine Biografie von Sahra Wagenknecht verfasst, die zugleich ein Psychogramm der Politikerin ist
Sahra Wagenknecht ist gar keine richtige Politikerin. Das politische Handwerk ist ihr eigentlich fremd. Sie kann nicht netzwerken, ist keine Rudelführerin. Dies sind keine Zitate von politischen Gegnern, dies hat Christian Schneider Sahra Wagenknecht selbst entlockt. Doch nicht nur mit ihr, auch mit ihren engsten Weggefährten sprach er, darunter ihr Lebenspartner Oskar Lafontaine, ihre Mutter und ihre Kindheitsfreundin Beate. Der Biograf wollte erkunden, warum Sahra Wagenknecht zu der Persönlichkeit geworden ist, die sie ist: zu einer Frau, die den politischen Diskurs in Deutschland in den letzten Jahren geprägt und polarisiert hat wie keine andere Oppositionspolitikerin, erst recht nicht aus der Linken. Was macht sie aus?
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Christian Schneider: Sahra Wagenknecht. Die Biografie. Campus, 272 S., geb., 22,95 €.
Um das zu eruieren, taucht der habilitierte Sozialpsychologe tief in die Psyche seiner Protagonistin ein. Sein Buch ist keine Biografie im herkömmlichen Sinne, sondern auch ein - öffentliches - Psychogramm. Aber gleichzeitig ein sehr politisches Buch.
Als wesentlichen Faktor der Entwicklungsdynamik von Sahra Wagenknecht identifiziert Schneider den frühen Verlust des Vaters. Der Iraner verließ Deutschland, als Sahra zweieinhalb war. Die Verarbeitung des Verlustes und die anhaltende Treue zum verlorenen Vater hat laut Schneider den späteren Einstieg von Sahra Wagenknecht in die Öffentlichkeit mit beeinflusst - in der Hoffnung, dass er davon in Iran erfährt und sich der Tochter noch einmal zuwendet.
Der Biograf weiß um ihr Interesse für Goethe, das nicht nur ein literarisches Hobby ist, sondern eine regelrechte Obsession; sie habe eine nahezu transzendente Beziehung zum Dichter entwickelt. Freundin Beate ist überzeugt, Sahra Wagenknecht und Goethe »hätten sich kennengelernt, wenn sie damals oder er heute gelebt hätte«. Schneider identifiziert jenen als den Ersten, »der so zu ihr gesprochen hat« und sie damit aus der Sphäre ihres Vaters herausholen konnte, in der sie sich verfangen habe. Goethe steht stellvertretend für die Welt des Geistes und die der Wörter, die für Sahra Wagenknecht wichtig ist - Nahrung, ohne die sie krank wird oder zu verhungern droht.
Da sie Goethe nicht leibhaftig kennenlernen konnte, nahm sie 1987 in einem poetischen Brief Kontakt zu Peter Hacks auf, aus dem sich eine enge Gesprächsbeziehung entwickelt. Hacks wird für die junge Sahra Wagenknecht in der Darstellung Schneiders zu einer alles überstrahlenden Gestalt, in der sich ihr Traum materialisiert - ja, zu einem »platonisch geliebten Übervater«.
Schneider konstatiert einen seltsamen Kontrast zwischen Wagenknechts sprachsensibler Stilbildung durch Goethe, Hegel und Marx auf der einen Seite sowie dem formelhaften funktionärsdeutschen Politsprech, den seine Protagonistin zu Beginn ihrer politischen Tätigkeit pflegte. »War mit ihrem Eintritt in die Partei das Ende des Schöngeistigen gekommen?« Eine Frage, die zu verneinen ist.
Seit ihrer überraschenden Wahl in den PDS-Parteivorstand 1991 veränderte sich nicht ihre betont marxistische Ausrichtung, die entgegen dem Klischee nie orthodox war. Vielmehr sprach sie sich - so in ihrer Auseinandersetzung mit der Wirtschaftspolitik von Walter Ulbricht - früh für die Integration von Leistungsdenken und Wettbewerb in die Sozialismuskonzeption aus. Dieser Ansatz von ihr nicht erst neueren Datums, wie manche meinen.
Die angesichts ihres intellektuellen Horizonts erstaunlich unkritische Haltung zur DDR, deren Verhältnisse sie in der Konkretion zwar in vielen Punkten von Anfang an kritisierte, erklärt sich daraus, dass die heutige Saarländerin die andere deutsche Republik als ihre Heimat begriff. Obwohl sie, die Individualistin mit von Schneider bescheinigten autistischen Zügen, unter der Konformität dieses Staates wirklich gelitten hat, der ihr das Studium verwehrte, und - wie sie gegenüber Schneider sagt - erst durch die von ihr politisch so verurteilte Wende aus einer ziemlich ausweglosen Situation befreit wurde.
Nichts hasst Sahra Wagenknecht mehr als Opportunismus, betont Schneider. Er beschreibt, wie sie einen bemerkenswerten Entwurf für ein neues Programm der PDS entwickelte, »eine verheerende Bestandsaufnahme der kapitalistischen Welt«, wie sich ihr politisches Denken seit Mitte der 90er Jahre langsam veränderte, »an die Stelle der nostalgischen Vergangenheit die Perspektive einer möglichen Zukunft« trat, dass sie kurzzeitig über eine akademische Laufbahn nachdachte und warum sie häufiger Gast in Talkshows ist. Privates kommt in dieser Biografie natürlich auch nicht zu kurz. Zum Schluss greift der Biograf noch einmal auf Goethe zurück.
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