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Ein Leben in Schuhkartons
Günter Herlt erzählt von einem Frauenschicksal in finsterer Zeit
Er ist nicht nur Sprecher, sondern auch ein Erzähler. Günter Herlt kennen Ostdeutsche reiferen Jahrgangs aus dem Fernsehen. Er war Kommentator und stellvertretender Chefredakteur der »Aktuellen Kamera« sowie DDR-Korrespondent in der alten Bundesrepublik. In den letzten zwei Jahrzehnten hat er in der Eulenspiegel-Verlagsgruppe etliche Bücher veröffentlicht, kecke und kluge Kommentare zum Zeitgeist und Zustände wie auch verzerrte Geschichtsbilder zurechtrückende Rückblicke.
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Günter Herlt: Margaretes Schuhe. Verlag am Park, 168 S. br., 15 €.
Jetzt hat er eine Hommage an (s)eine Mutter verfasst - an Margarete Arendt, die im gleichen Jahr wie Erich Honecker zur Welt kam, 1912, und nur 73 Jahre alt wurde. Herlt bietet hierzu ein Zitat von Luther: »Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und wenn’s köstlich gewesen ist, so ist es Mühe und Arbeit gewesen; denn es fährt schnell dahin, als flögen wir davon.«
»Margaretes Leben war Mühe und Arbeit«, lässt uns der Autor wissen. »Sie war eine von Millionen namenlosen Frauen, die anständig und klaglos durchs Leben gingen, Kinder zur Welt brachten und oft allein standen, wenn der Mann davon- oder in den Krieg zog.« Als sie starb, hinterließ sie zehn Paar Schuhe und zwei Schuhkartons mit Erinnerungen. Herlt hat diese gesichtet und ein zwar unspektakuläres, aber nachdenklich stimmendes Leben nachgezeichnet.
»Wenn die Statistik stimmt, dass wir in unseren Schuhen durchschnittlich vier Mal im Leben die Erde umrunden, dann hat diese Margarete es wahrscheinlich drei Mal mehr getan.« Bedingt durch Margaretes Beruf als Kellnerin. »Sie war eine emsige Ameise, die ein Wölkchen in der Sonne erklimmen wollte - bis die Gewitter und raue Winde sie unter die Erde drückten.« Herlt erinnert an sie, weil Frauen wie sie im »Buch der Geschichte« nur selten vorkommen und selbst die Enkel von ihnen kaum bis gar nichts wissen.
Im Deutschland unterm Hakenkreuz gilt die in der Provinz Posen geborene Tochter eines Mechanikers und einer Hobbygärtnerin als nicht »rein genug«. Sie wächst im Berlin der »Goldenen Zwanziger« auf, die für sie keineswegs golden sind. Das sanftmütige, fleißige Dienstmädchen, das gern Tänzerin geworden wäre, wird von ihrem Brötchengeber, einem pensionierten Rechtsanwalt in Steglitz, fortgejagt - weil dessen Sohn, Jurastudent und Mitglied der Burschenschaft »Teutonia«, sich an ihr vergangen hat. »100 Reichsmark ›Schweigegeld‹ waren ein schwacher Trost«, schreibt Herlt, der das quirlige, verrückte und doch auch schon beängstigende Berlin gekonnt porträtiert.
Margarete findet Anstellung im Kolonialwarenladen eines älteren österreichischen Herrn, plagt sich später in der Packerei der Schokoladenfabrik Trumpf. Es folgt Arbeitslosigkeit, und das zweite Kind erblickt das Licht der Welt. Obwohl Freund Atze, Mitglied im Arbeiter-Radsportbund, wo jeder Zweite entweder der SPD oder der KPD angehört, nicht der leibliche Vater der beiden Kinder ist, hält er Margarete die Treue - bis zu jenem Jahr, als in Spanien Faschisten gegen die Volksfrontregierung putschen. Da macht er sich auf, die Demokratie auf der Iberischen Halbinsel mit der Waffe in der Hand zu verteidigen.
In seine Erzählung streut Herlt immer wieder historische Miszellen ein, beispielsweise zur Dreiteilung Polens oder zum Blutmai und Schwarzen Freitag 1929, zur Weltwirtschaftskrise, über den Aufstieg Hitlers, von Großindustriellen gesponsert, sowie den Terror der Nazis gegen Andersdenkende und Juden. Margarete hat Glück, dass sie im Standesamt auf einen kurz vor der Pensionierung stehenden Beamten trifft, der ihren Fremdenpass für Staatenlose in ein bereinigtes Dokument umtauscht, frei von Verdachtsmomenten hinsichtlich jüdischer Abstammung.
Während Margarete im Café Bauer und hernach im Tanztheater Delphi kellnert, ist ihr Vater in die Rüstungsindustrie gezwungen. Herlt berichtet über »Blitzkriege« und herbe Niederlagen für die Aggressoren, auch über Kriegspropaganda, in die Filmproduktionen und Schlager eingebunden sind. Ein neuer Mann tritt in Margaretes Leben, Kurt, der ihr aus Frankreich Parfüm schickt, dann an die Ostfront muss und letztlich als »vermisst« gilt.
»Der Mensch kann sich an vieles gewöhnen, weil er viel vergessen kann«, schreibt Herlt. »Doch eines dürfen wir nie vergessen: Wer das Unkraut des Nationalismus und Militarismus sprießen lässt, darf sich nicht wundern, wenn er keine Sonne mehr sieht. Frieden muss mehr als die Pause zwischen den Kriegen sein. Deutschland hat genug gemordet!«
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