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Kapital und Menschheit - zwei konträre Universalismen
Vivek Cibber liefert eine marxistisch fundierte Kritik an postkolonialen Theorien
Mode und Trends kommen und gehen. Auch in der Wissenschaft. Seit einiger Zeit gehören »postkoloniale Theorien« in der akademischen Zunft zum guten Ton. Sie kritisieren berechtigt den Eurozentrismus, also die ideologische Beurteilung außereuropäischer Gesellschaften nach europäischen Vorstellungen, sowie koloniale Ideologie und ökonomischen Determinismus. Die führenden Theoretiker*innen beanspruchen für sich, die Quellen des Handelns lokaler Bevölkerungen, der einstigen »Subalternen«, ans Licht geholt und ihrer Kultur wieder einen zentralen Stellenwert in Gesellschaftsanalysen eingeräumt zu haben. Im »Süden« würde die sogenannte Moderne einen anderen Weg einschlagen als in Europa und nicht die gleichen Institutionen wie dort herausbilden. Im Zentrum der postkolonialen Studien steht die Behauptung, dass eine tiefe Bruchlinie zwischen den westlichen kapitalistischen Nationen und der postkolonialen Welt verläuft.
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Vivek Chibber: Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals. Karl Dietz, 382 S., br., 29,90 €.
Vor allem unter linken Studierenden erfreuten sich postkoloniale Studien nach dem Niedergang des akademischen Marxismus großer Beliebtheit. Führende Vertreter*innen betonen immer wieder, dass diese mehr seien als bloße Theorie, nämlich konkrete Praxis. Sie sehen sich selbst als eine Form von Bewegung. Anfänglich richtete sich ihr Impuls tatsächlich gegen die Strukturen der kolonialen Beherrschung. In jüngster Zeit erfassen postkoloniale Studien jedoch ein wesentlich breiteres Spektrum gesellschaftlicher Verhältnisse. Der New Yorker Soziologieprofessor Vivek Chibber ist nun angetreten, die »Subaltern Studies«, für ihn ein Paradebeispiel postkolonialer Theorien, marxistisch geschult zu kritisieren. Zunächst stellt Chibber die Argumentation der postkolonialen Theorie anhand zahlreicher Originalzitate vor, um sie dann Schritt für Schritt zu widerlegen. Das liest sich mitunter mühsam und wirkt zuweilen langatmig, ist aber fundiert und überzeugend.
Der 1965 in Indien geborene und seit 1980 in den USA lebende und lehrende Wissenschaftler vertritt die These, dass die postkoloniale Theorie nicht nur empirisch fehlerhaft sei, sondern eigentlich Orientalismus wiederbelebe, den sie angeblich kritisieren wolle. Sie sei daher nicht nur unfähig, die Entwicklung der postkolonialen Welt zu erklären, sondern stehe auch einer emanzipatorischen Politik im Wege, die sie zu unterstützen meint. Starker Tobak!
Folgt man Chibbers Analyse, müssen die »Subaltern Studies« scheitern, weil sie das Verhältnis von Kapitalismus und Moderne systematisch falsch verstehen. Subalternistische Theoretiker*innen identifizieren den Kapitalismus mit seinen erst in jüngerer Zeit entstandenen liberalen Erscheinungsformen. Statt den liberalen, demokratischen Kapitalismus als ein neues Phänomen zu betrachten, das durch Jahrhunderte des Klassenkampfes entstand, machen sie diese Besonderheit zu einem Bestandteil ihrer Definition des gegenwärtig global herrschenden Systems.
Wenn der Kapitalismus derart eingeschränkt gefasst wird, lässt sich natürlich leicht behaupten, dass es in den ehemaligen Kolonien keinen Kapitalismus oder höchstens eine unechte Version gäbe.
Chibber entkräftet die Hypothese, wonach das Kapital bei seiner Ankunft in der kolonialen Welt seine universalisierende Mission - die Mehrwertproduktion - aufgegeben habe. »Was jedoch unter der Herrschaft des Kapitals universalisiert wird, ist nicht das Streben nach einer konsensuellen und integrierenden politischen Ordnung, sondern der Zwang der Marktabhängigkeit«, merkt Chibber an.
Kapitalismus bedeutet Abhängigkeit vom Markt. Dem widersprechen nicht das Fortbestehen archaischer Machtverhältnisse, Rückgriffe auf traditionelle Symbole, die Stabilität von Bündnissen auf der Basis von Kastenzugehörigkeit oder Verwandtschaft. All dies lässt sich mit der weltumspannenden Tendenz des Kapitals in Einklang bringen. Die Ablehnung universalisierender Kategorien in der postkolonialen Theorie kontert der Autor mit dem Hinweis: »Universal wird mit homogen gleichgesetzt.«
Für Chibber bietet die abstrakte Logik des Kapitalismus, die Marx mit dem Begriff der abstrakten Arbeit zu erfassen versuchte, die Möglichkeit, eine ungeheure Vielfalt an sozialen Identitäten innerhalb der Gesellschaften zu begreifen. Das Kapital muss sich nicht zwangsläufig jede Gesellschaft zum exakten Ebenbild formen, es reicht, wenn die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft sichergestellt ist. Lokale Differenzen oder Eigenheiten stehen dem nicht im Wege, sondern können bewusst reproduziert und sogar erzeugt werden. Einige Mitglieder des Kollektivs der »Subaltern Studies« schließen diese Möglichkeit jedoch kategorisch aus. Die Ironie dieser Geschichte besteht laut Chibber darin, dass jene sich »zwar als das neue Gesicht der radikalen Kritik im Zeitalter des globalen Kapitalismus präsentieren«, aber in der Argumentation »zentrale Elemente der konservativen Ideologie wiederbeleben«.
Völlig unterschätzt werde von Vertreter*innen der postkolonialen Theorie die Fähigkeit des Kapitalismus, Heterogenität nicht nur zu tolerieren, sondern aktiv zu fördern. Chibbers Urteil fällt eindeutig aus: »Wenn eine Theorie keinen blassen Schimmer davon hat, wie der Kapitalismus funktioniert, kann ihr Anspruch, marxistische oder andere radikale Analysen zu ersetzen, natürlich nicht ernst genommen werden.« Postkoloniale Theorie scheitere nicht nur mit ihrer Analyse des Kapitalismus, sie könne auch kein Vorreiter der antikolonialen oder antiimperialistischen Kritik sein, weil sie einige der schlimmsten Formen von orientalistischer Mythologie wiederauferstehen lässt.
Chibber nimmt die Argumente seiner akademischen Gegner ernst und kann diese daher auch umso besser zerreißen. Seine erfrischend klare Kritik an den »Subaltern Studies« ist nicht ein rein akademischer Disput, sondern auch politisch eminent. Vor allem, wenn er von »zwei Universalismen« spricht, die die Moderne beherrschen: auf der einen Seite der universelle Trieb des Kapitals, unser Leben zu dominieren und auf der Jagd nach Profit die Menschen gegeneinander auszuspielen; auf der anderen Seite die Menschheit/ Menschlichkeit als einigendes Band über Kulturen, Sprachen und Religionen hinweg. Die Anerkennung dieser Gemeinsamkeiten sind unverzichtbarer Ausgangspunkt, um die neoliberale Ordnung zu überwinden. Und hierzu kann der Marxismus mehr beitragen als alle postkolonialen Theorien - allen anderen Moden und Trends zum Trotz.
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