Das nächste Katastrophenbuch

Leo Fischer über eine Neuerscheinung im Buchgenre »Germanokalypse«

Geht man nach den populären Bestsellern, dürfte es Deutschland schon längst nicht mehr geben: »Deutschland schafft sich ab«, »Deutschland außer Rand und Band«, »Geht’s noch, Deutschland« verkünden nur die allerersten paar Amazon-Treffer. »Das Märchen vom reichen Land«, »Mekka Deutschland« heißt es später, noch später gar »Deutschland hat Rücken«.

Verfasst meist von Leuten, die selbst jahrzehntelang angeschafft haben, was in Deutschland wie zu laufen hat, leben sie von der Angstlust vor der unmittelbaren Katastrophe und der Hoffnung auf ihre Verhinderung um jeden Preis. Dabei müsste doch erst mal die Probe darauf gemacht werden, ob es der Welt, alles in allem betrachtet, mit einem untergegangenen Deutschland nicht sehr viel besser gegangen wäre und ginge, aber die Ahnung davon begründet bereits das Verbot, darüber ernsthaft nachzudenken.

Als Neuerscheinung im Genre »Germanokalypse« tingelt jetzt ein Psychiater namens Michael Winterhoff durch die Medien. Sein Buch mit dem schon wirklich schamlosen Trash-Titel »Deutschland verdummt«, in die Reihe all der anderen »Aus Sorge um Deutschland«-Bücher gestellt, wäre fast ein Beweis seiner eigenen These. Aber Winterhoff meint es anders, meint es anders auch als ein Thilo Sarrazin, der noch ungeschminkt die genetische Andersartigkeit der Intelligenz von Türken und Juden behauptete. Ausländer sind aber auch bei Winterhoff schuld, wenigstens indirekt: Bildungspolitiker der OECD, so der Mediziner, hätten vor 20 Jahren das Bildungssystem aus ideologischen Gründen so verändert, dass heutige 18-Jährige den »sozialen Reifegrad eines Kleinkinds« hätten.

Vorbildlich ideologiefrei mahnt Winterhoff, heutigen Teenagern fehle es an sozialen Kompetenzen. Damit meint er aber keineswegs Solidarität, Diskussionsfähigkeit oder das Sprechen über Gefühle, sondern, natürlich, die Performance: »Ja, wenn Sie sich mal heute Praktikanten angucken oder Auszubildende, was vielen fehlt, sind sogenannte Soft Skills, das wäre Arbeitshaltung, Sinn für Pünktlichkeit, Erkennen von Strukturen und Abläufen. Das Handy ist ihnen wichtiger als der Kunde, der vor ihnen steht.«

Sacrebleu! Jugendliche sind mit 18 noch nicht völlig entseelte Servicezombies, die auch dann noch lächeln, wenn ihnen Kunden Kaffee ins Gesicht schütten, und pünktlich zu dem Drecksjob kommen, mit denen sie Hartz IV auf ein Überlebensniveau aufstocken dürfen. Im Deutschlandfunk weint Winterhoff über eine Kita, die vor kurzem einen Preis bekommen hat: »Das ist eine Kita, die Funktionsräume hat, Toberaum, Bastelraum, Café, einen Theaterraum und vieles mehr, und die Kinder können sich dort frei bewegen und können auch sich frei entscheiden, was sie machen.«

Für Winterhoff »eine Katastrophe«: Kinder wüchsen hier im Gefühl auf, »ich kann alles bestimmen, ich kann alles steuern, ich muss mich auf niemanden einstellen und ich lebe nach Lustimpulsen« - so entstehe niemals eine »Arbeitshaltung«. Denn dafür ist die Kita seiner Meinung nach offenbar da: schon den Allerkleinsten einzubläuen, dass sie wertlos und austauschbar sind und garantiert auch später nichts mitbestimmen dürfen in der »marktkonformen Demokratie« (Angela Merkel).

Vielleicht ist es kühn, aber ich würde ein Land wirklich gerne mal ausprobieren, in dem Leute wie Winterhoff nicht pausenlos alles bestimmen und alles steuern. Alternativ nehme ich 20 Minuten im Toberaum.

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