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Immer wiederkehrender Wahnsinn
Christoph Ruf über Angst, ironiefreie Mitbürger, Rentner-Hooligans - und Wünsche für das neue Jahr
Keine Ahnung, ob bei mir noch irgendwelche Spätfolgen von Weihnachten nachwirken, ich bin jedenfalls kurz vorm Jahreswechsel einigermaßen versöhnlich gestimmt. Deshalb reduziere ich die unendliche Anzahl meiner Wünsche fürs Jahr 2020 auf den einen: Beruhigt euch mal alle wieder da draußen. Ja, ihr: hysterische Politiker, ironiebefreite Normalbürger, Szene-Hygieniker. Alle mal runterfahren, ihr seid nicht alleine auf der Welt.
Und da ich gerade so friedlich gestimmt bin, gönne ich den Landesinnenministern dieses Jahr sogar ihr Silvester-Feuerwerk. Schaut euch die Neujahrsansprache der Kanzlerin an, denkt ein bisschen an die ärmeren Länder (nicht zu lang, könnte ja etwas mit eurer Politik zu tun haben), trinkt euren Sekt und geht mit den Enkelkindern raus auf die Straße zum Pyrotechnikfestival. Also, das gesellschaftlich normierte meine ich jetzt natürlich. Ihr wisst ja sicher den Grund, warum ihr euch weigert, das wilde Geballere zu Silvester zu verbieten, aber mit Vollspeed am Rad zu drehen, wenn ein paar Ultras in Fußballstadien zünden. Und das, obwohl die Kliniken in der Nacht vom 31.12. auf den 1.1. tatsächlich immer gestopft voll sind mit Menschen, die sich schwer verletzt haben - was meines Wissens nach Bundesligaspielen im Zusammenhang mit Pyrotechnik eher selten vorkommt. Das hat 2019 aber einige besonders drollige Exemplare von euch nicht daran gehindert, allen Ernstes Haftstrafen oder den Entzug des Führerscheins für Fans zu fordern, die ein Bengalo zünden.
So viel zum immer wiederkehrenden Wahnsinn, wenn Politiker sich zum Thema Fußball äußern. Wer den Rest der Nachrichten 2019 Revue passieren lässt, kommt aber nicht umhin, sich zu fragen, ob das Problem nicht (noch) größer ist. Die Frage stellt sich, ob die westlichen Gesellschaften nicht gerade dabei sind, jedes Maß zu verlieren. Definitiv steuert man fleißig auf eine ironiefreie Gesellschaft zu, die nicht mehr in der Lage ist, sich zu reflektieren oder gar Fehler einzugestehen. Jeder geifert aus seinem Zwinger heraus, die Rechten aus ihrer Scheinwelt unterm Aluhut, die vermeintlichen Linken aus den Wärmestuben ihrer eigenen Selbstgewissheit. Und alle wollen dabei nur eines: Bestätigt werden in ihrer selektiven Wahrnehmung. Und wenn die noch so maßlos ist. In einer solchen Gesellschaft schaffen es Rentner-Hooligans, den Intendanten des WDR dazu zu bewegen, sich für ein hervorragendes satirisches Lied (»Meine Oma ist ’ne Umweltsau«) zu entschuldigen, ohne dass der sich die Frage nach seinem Berufsethos stellt.
In manchen Gegenden schafft sich das Bedürfnis nach porentief reinen Benimmregeln praktischerweise gleich seine eigenen Gesetze. Dann werden französische Sozialdemokraten und deutsche FDPler mit Auftrittsverboten an Universitäten belegt, weil deren Ergüsse eine Zumutung fürs eigene Weltbild sind, man aber lieber Redeverbote erteilt anstatt seine eigenen Erkenntnisse zu begründen.
Ebenfalls 2019 hat im US-Staat Iowa ein fraglos schwer zurückgebliebener Mensch eine Regenbogenflagge verbrannt. Ich finde solche Menschen zutiefst unsympathisch und bin froh um jeden, der diese Hinterwäldler in ihre Schranken weist. Ein kleiner Schlag auf den Hinterkopf, ausgeführt mit einem stumpfen Gegenstand wie dem Alten Testament, wirkt da manchmal Wunder. Doch vor Ort wurde der Mann allen Ernstes zu 15 Jahren Haft verurteilt, weil das Gericht das Verbrennen eines Stückes Stoff als Hassverbrechen gegen die Lesben-, Schwulen-, und Transgendergemeinschaft wertete.
Wer ein solch maßloses Urteil nicht als das kennzeichnet, was es ist - nämlich ideologische Willkürjustiz, die Nordkorea oder Scharia-Staaten zur Ehre gereichen würde - macht mir deutlich mehr Angst als ein US-Hinterwäldler. Erstaunlicherweise hat sich allerdings hierzulande kaum ein Journalist getraut, das auch so zu kommentieren. Ist wahrscheinlich auch besser so, zumindest wenn man bei einem Sender arbeiten will, in dem ein satirisches Liedchen auf den Index kommt, weil sich ein paar Trottel von der CSU-Rentnerunion aufregen. 2020 würde ich jedenfalls wieder ganz gerne in einer Gesellschaft leben, in der das Recht auf freie Meinungsäußerung ein hohes Gut bleibt.
Wenn ich von Menschen umgeben bin, die in fundamentalen Punkten anderer Meinung sind als ich, fühle ich mich unwohl. Noch unwohler fühle ich mich allerdings, wenn plötzlich alle meiner Meinung sind.
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