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Pauschalverdacht haltlos
Ob Handyprüfung oder Widerrufsverfahren: Schutzentscheidungen für Flüchtlinge werden fast immer bestätigt
»Wir schaffen das«. Dem Flüchtlingstreck, der 2015 Deutschland erreichte, und dem vielzitierten Satz der Bundeskanzlerin folgten eine Regierungskrise und diverse Gesetzesverschärfungen, die diese Krise begrenzen sollten - durch größtmögliche Begrenzung der Zahl Geflüchteter. Eine pauschale Kriminalisierung der Betroffenen lieferte die öffentliche Voraussetzung hierfür.
Flüchtlingen könnte ein Schutzstatus zu Unrecht zugesprochen werden, das war der immer wieder erhobene Generalverdacht. So wurde staatlicher Zugriff auf Handys von Geflüchteten erlaubt, um Menschen zu identifizieren, die ihre Herkunft angeblich verschleierten. Seit 2017 hat das BAMF inzwischen etwa 20.000 Mobiltelefone von Geflüchteten ausgelesen.
Das Ergebnis: Nur in ein bis zwei Prozent der technisch verwertbaren Auswertungen fanden sich Widersprüche zu den Angaben, die die Asylsuchenden in ihren Befragungen selbst gemacht hatten. Die Behauptung, dass Flüchtlinge massenhaft versuchten, ihre Herkunft zu verheimlichen oder zu fälschen, ließ sich über die Handyauswertung also offenkundig nicht untermauern. Eine Studie förderte diese Erkenntnis zutage. Sie wurde im Auftrag der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. (GFF) erstellt, die mit den ermittelten Fakten eine Klage gegen das staatliche Vorgehen vorbereitet. Die Chancen auf einen erfolgreichen Einspruch stehen womöglich nicht schlecht. Abgesehen vom sinnlosen Aufwand. Rund elf Millionen Euro kostete der Aufwand der Handyüberprüfung den Angaben zufolge.
Ein ähnliches Bild ergeben auch die Widerrufsverfahren, denen Flüchtlinge unterworfen werden. Nach spätestens drei Jahren muss das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) solche Verfahren einleiten, um erteilte Schutzrechte zu kassieren, wo sie zu Unrecht zugestanden wurden. Anfragen der Linksfraktion im Bundestag an die Bundesregierung haben ergeben: Auch die Widerrufsverfahren widerlegen die Behauptung, unter den Flüchtlingen der Jahre 2015 und 2016 hätten sich viele befunden, die sich zum Schein als Bürgerkriegsflüchtlinge ausgaben, um einen Schutzstatus zu erhalten. Gerade das in dieser Zeit bevorzugte beschleunigte, sogenannte Fragebogenverfahren hatte zum öffentlich immer wieder geäußerten Verdacht geführt, dass insbesondere syrische, irakische und eritreische Flüchtlinge, die zu dieser Zeit in aller Regel als schutzbedürftig anerkannt wurden, ihre Identität gefälscht hätten.
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Die Fakten zeigen, dass das nicht stimmt. In 98 Prozent aller Fälle bestätigte das BAMF den bereits zuvor ausgesprochenen Schutzstatus. In den Fragebogenverfahren liegt die Quote mit 99,6 Prozent sogar noch höher. Gerade einmal 177 Widerrufe oder Rücknahmen der ersten Entscheidung sprach das Bundesamt hier aus. Über den Aufwand des Widerrufsverfahrens geben die absoluten Zahlen Auskunft: 82 589 Mal lud das BAMF Geflüchtete mit erteiltem Schutzstatus insgesamt zur Überprüfung in einer persönlichen Befragung vor. 75 442 davon waren nach Begutachtung ihres Fragebogens anerkannt worden, und 50 658 von ihnen wurden bis Ende September 2019 in persönlicher Befragung überprüft. Nur 20 Mal ordnete das Bundesamt übrigens ein Zwangsgeld an, weil die Betroffenen ihre Mitwirkungspflicht nicht erfüllt hatten, also nicht erschienen.
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Die LINKE kritisiert das Widerrufsverfahren generell. Ulla Jelpke, ihre innenpolitische Sprecherin im Bundestag, spricht von politisch geschürtem Misstrauen gegenüber Schutzsuchenden. Dass dies komplett unbegründet sei, das liest Jelpke aus den Zahlen der Bundesregierung. »Nach aufwändigen Überprüfungen wird der vom BAMF erteilte Schutzstatus fast immer bestätigt«, so Ulla Jelkpe. Die hunderttausendfachen pauschalen Widerrufsprüfungen seien »nichts als sinnlose Schikane, wie es sie in fast keinem anderen europäischen Land gibt«. Das Bundesamt sei zur »Widerspruchsbehörde« mutiert. Knapp 800 Beschäftigte sind ausschließlich damit befasst.
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