Der perfekt organisierte Irrsinn
Christoph Lixenfeld hält Pflegereformen für nutzlos und fordert einen Neustart
Die 83-jährige Ida A. sitzt frisch frisiert und schick gekleidet in einem bequemen Sessel im Wohnzimmer ihres Bauernhauses, der Gehstock in Reichweite. Ihre Pflegerin Nauja betritt das Haus, nachdem sie eine Nummer in ihr Smartphone getippt und damit die Tür geöffnet hat. Sie setzt sich vor die Frau auf einen Hocker, zieht ihr Kompressionsstrümpfe an und stellt deren Füße auf ein Mini-Bike. Mit kleinen Riemchen werden sie befestigt, und los geht das Training. Ida fängt an zu kurbeln. Das fördert die Durchblutung, stärkt Herz und Beinmuskeln.
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Christoph Lixenfeld: Schafft die Pflegeversicherung ab! Warum wir einen Neustart brauchen.
Rowohlt, 221 S., br., 12 €.
Naujas nächster Patient ist Lucas P. Seine Nieren arbeiten nicht mehr richtig, noch vor einem Jahr war es ihm nicht möglich, die Treppe zum Schlafzimmer zu bewältigen. Doch nachdem jede Woche ein Physiotherapeut mit ihm übte, schafft er es jetzt wieder. Darüber hinaus absolviert Lucas ein Fitnesstraining für Ältere im Krankenhaus.
Sowohl Ida als auch Lucas wohnen nicht in Deutschland, sondern in Dänemark. Dort laufen die Dinge in der Pflege anders als bei uns, wie Christoph Lixenfeld recherchierte. Jedem Dänen über 75 Jahre steht eine Viertelstunde Training pro Tag zu. Das Prinzip Rehabilitation vor Pflege werde hier ernst genommen und zum Erfolg geführt, resümiert der Autor, der zu einem erschreckenden Fazit kommt: »Je malader ein alter Mensch ist, desto mehr bezahlt die Pflegeversicherung. Das System honoriert also statt Fortschritten Defizite und Verelendung.«
Ein Beispiel dafür ist Marie Kirsch aus dem westfälischen Oelde. Die 80-Jährige war immer stolz auf ihre Fitness und Selbstständigkeit. Allein lebend seit dem Tod ihres Mannes fuhr sie mit dem Rad zum Einkaufen, schleppte die Taschen in den zweiten Stock. Bis sie beim Staubsaugen über eine Teppichkante stolperte und sich den Oberschenkelhals brach. Drei Monate ambulante Krankengymnastik konnten ihr nicht auf die Beine helfen. Also beantragte sie eine stationäre Rehabilitation, doch diese lehnte die Kasse ab. Die alte Dame, und mit ihr Tausende andere in gleicher Situation, ist Opfer eines Konstruktionsfehlers im System, der Trennung von Kranken- und Pflegeversicherung sowie der Trennung von Grund- und Behandlungspflege.
Waschen, Hilfe beim Essen oder den Toilettengängen bezahlt die Pflegekasse. Ärztlich verordnete Leistungen wie Blutdruckmessen, Medikamentengabe oder Wundversorgung ist dagegen Sache der Krankenkasse. Kommt der Mensch ins Pflegeheim, wie es Marie Kirsch jetzt bevorsteht, zahlt die Pflegekasse alles. Kein Wunder, wenn die Krankenkasse an einer Rehabilitation kein Interesse hat und die Kosten in den Pflegeheimen explodieren. Die Hälfte der Bewohnerinnen kann das nicht mehr bezahlen und bekommt Sozialhilfe. Lixenfeld nennt das perfekt organisierten Irrsinn.
2017 waren in Deutschland 3,41 Millionen Menschen pflegebedürftig, etwa eine halbe Million mehr als noch zwei Jahre zuvor. 2,59 Millionen von ihnen werden zu Hause versorgt; 1,76 Millionen ausschließlich von Angehörigen. 818 000 Menschen leben in Pflegeheimen. Der Autor rechnet in seinem faktenreichen Buch gnadenlos ab - mit Heimbetreibern, deren Gewinnstreben und Kostenminimierung zulasten der Bewohner und Mitarbeiter gehen. Mit den Leistungserbringern und ihren Verbänden, die vorrangig Profitinteressen vertreten, und mit der Politik, die Pflegebedürftige wie auch Pflegerinnen und Pfleger bereits seit Jahrzehnten im Stich lässt. Sicher, er hat auch positive Beispiele gefunden, doch das sind zarte Pflänzchen.
Silvia Ottow
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