Der um die Sonne kreist
Radsportlegende Täve Schur begründet, was warum für ihn wichtig ist
Er wird geliebt. Von allen. Und das verwundert nicht. Ein offenherziger, stets frohgemuter, bescheidener und bodenständiger, aufrichtiger und aufgeschlossener Zeitgenosse, der nicht verbitterte, gleichwohl ihm manche Enttäuschung nicht erspart blieb und er über den Zustand des Landes, in dem er jetzt lebt, sowie Unordnung, Ungerechtigkeit, Unfrieden in der Welt entsetzt ist. Als gutmütig, sensibel, sentimental schätzt Gustav-Adolf »Täve« Schur sich selbst ein. Was er damit begründet, dass er im Tierkreiszeichen Fisch geboren ist.
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Täve Schur: Was mir wichtig ist.
Neues Leben, 224 S., br., 20 €.
Seiner Autobiografie von 2011 folgt jetzt ein Mix aus Bekennerschrift und Anekdotensammlung. Darin seine Überzeugungen, erwachsen aus Erlebnissen in fast 90 Jahren, teils in einem verschwundenen Land, der DDR, und aus der Erfahrung von »Leichenfledderei« an ihr nach deren Ende. Er schreibe »aus der Perspektive eines Ostdeutschen, der in der Weimarer Republik in einer Arbeiterfamilie geboren wurde, in der Nazizeit aufwuchs und in der Nachkriegszeit eine Lehre als Mechaniker absolvierte. Der in der DDR zum erfolgreichen Radfahrer wurde, an der Deutschen Hochschule für Körperkultur studierte, eine Familie gründete und glücklich war in dem, was er tat. Und der 1990 so wenig gefragt wurde wie Millionen Landsleute, ob er lieber im Kapitalismus oder im Sozialismus leben wollte.«
Täve ist stolz auf seine proletarischen Wurzeln, auf sein Dorf, »in dem ich seit meiner Geburt lebe und wo ich eines Tages vermutlich auch begraben werde«. Heyrothsberge zählt keine 1000 Einwohner, ist buchstäblich auf Sand gebaut und genau genommen ein Ortsteil von Biederitz im Kreis Jerichow, Sachsen-Anhalt. Seinem Heimatort entstammen zwei weitere Prominente: der Fußballer Hermann Stöcker, der das Kicken in der Betriebssportgemeinschaft Traktor Heyrothsberge erlernte, mit dem 1. FC Magdeburg FDGB-Pokalsieger wurde und 1964 mit der National-Elf Bronze bei den Olympischen Spielen in Tokio gewann, sowie die Biologin und Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard, deren Familie vor dem Mauerbau gen Westen zog.
»Bei mir«, merkt Schalk Täve an, »langte es nicht einmal zur Aufnahme in die Hall of Fame des (bundes)deutschen Sports«, auch wenn ihm 2011 die »FAZ« schmeichelte, er sei »der Max Schmeling des Ostens«. Als höchste gesellschaftliche Ehrung blieb ihm der Vaterländische Verdienstorden. »Und das ist in mehrfacher Hinsicht auch gut so«, lässt Täve wissen. Neben Schmeling, der sich vor den Propagandakarren der Nazis spannen ließ, oder Willi Daume, der während der NS-Zeit Zwangsarbeiter in seiner Eisengießerei ausbeutete, hätte er sich »nicht sonderlich wohlgefühlt«.
Mit leichter Feder und Witz berichtet Täve aus seinem Leben. Etwa wie er als Knabe schon hoch hinaus wollte, den Schornstein einer Ziegelei erklomm, zum Entsetzen der Eltern und Nachbarn. Wie er sein erstes Wettrennen wegen der Siegprämie antrat, einer Waschmaschine, die der Mutter Fron abnehmen sollte. Und wie er sehr viel später zwei Spielmannszüge des Deutschen Turn- und Sportbundes gegen einen Esel eintauschte und so den Dorfschulzen und eine alte Frau glücklich machte.
Das Buch ist zugleich ein Ratgeber. Die Frage »Soll man den Enkel zum Sporttreiben bewegen« bejaht er selbstredend. Zu einem »Njein« gelangt man eher nach Lektüre des mit »Soll man in die Politik gehen?« überschriebenen Kapitels im Buch des einstigen PDS-Bundestagsabgeordneten. Täve freut sich über »Taeve«, der im Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter die Sonne umkreist. 2005 war dieser Stern nach ihm getauft worden. Sein Einverständnis gab er den Wissenschaftlern der Sternwarte im erzgebirgischen Drebach erst, nachdem diese ihm versichert hatten, jener werde nie mit der Erde kollidieren. Er will nicht eines Tages in der Zeitung lesen, dass »Taeve« abgestürzt ist.
Der Leser erfährt, dass es im einzigartigen Friedensfahrtmuseum in Kleinmühlingen mehr als 10 000 Exponate gibt, darunter an die 30 Aktenordner mit Briefen und Postkarten, die Täve im Laufe der Zeit erreichten. Weitere hat er bei sich jüngst wiederentdeckt und im Buch abgedruckt, darunter von Bewunderern der Radsportlegende, die selbst Legendenstatus erlangt haben wie die Schauspieler Annekathrin Bürger und Peter Bause, Eiskunstlauftrainerin Jutta Müller oder der Kabarettist Hansgeorg Stengel. Das erneute Lesen der Zuschriften rühre ihn, »dieses einzigartige Gefühl von Nähe und Vertrautheit, das seinerzeit unser Zusammenleben bestimmte. Wir waren uns nah, fühlten uns füreinander und für die Welt verantwortlich. Nicht Not oder Überwachung zwangen uns zur Solidarität, sondern natürliche Mitmenschlichkeit.«
Täve ist kein Nostalgiker. Er konzediert dem vereinigten Deutschland: »Manches ist besser, aber nicht weniges wurde eben auch schlechter.« Der Autor hält nicht zurück mit Kritik an dem, was er kritikwürdig findet. »Ich habe zu allem eine Meinung, weil ich eine Haltung habe. Früher hieß das mal Klassenstandpunkt. Die Klasse ist weg, aber der Standpunkt blieb.« Dass Klassenkampf respektive der Wettstreit der Systeme auch im Sport tobte, verdeutlicht Täve an etlichen Beispielen. Bei einem deutsch-deutschen Ausscheidungswettkampf im Vorfeld der Olympischen Spiele 1964, als noch die Hallstein-Doktrin galt, Bonner Alleinvertretungsanspruch, landete Täve kurz nach dem Start im Graben, weil ihn ein westdeutscher Fahrer unlauter ausgehebelt hatte.
Nachtragend ist Täve nicht. Er wünscht sich ehrlichen Herzens ein endliches Zusammenwachsen der Deutschen: »Irgendwann muss mal Schluss sein mit dieser ganzen Ost-West-Reiberei. Denn der Graben verläuft nicht von Norden nach Süden, sondern zwischen oben und unten, zwischen Anstand und Unanständigkeit, zwischen Vernunft und Unvernunft, zwischen Wahrhaftigkeit und Lüge.« Täve Schur, der sich einen »unverbesserlichen Optimisten« nennt, hofft mit seinem Buch »zu dieser notwendigen Entkrampfung« beitragen zu können.
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