Wie ein Vogel, der sich verflogen hat

Grit Poppe hat einen rasanten Roman über deutsche Geschichte und Angstzustände geschrieben

  • Irmtraud Gutschke
  • Lesedauer: 3 Min.

Eine 15-Jährige verhilft einem Mann zu einer Leiter, und dem gelingt damit 1986 die Flucht über die Mauer nach Westberlin. Das Mädchen will nicht verlassen werden, rennt ihm nach ... Wenn ein Roman so beginnt, ahnt man, es wird böse enden. Der Mann könnte erschossen werden oder käme in Haft. Und das Mädchen, aufgegriffen, hätte kein freundliches Verständnis zu erwarten.

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Grit Poppe: Angstfresser.
Mitteldeutscher Verlag, 351 S., br., 20 €.

Warum eigentlich nicht? Wozu diese Härte, die damals von vielen als normal empfunden oder verdrängt worden ist? Die Frage in mir kommt aus einem Persönlichkeitsbegriff, den die Kriegsgeneration in der DDR nicht hatte. Mein Vater hat das Recht des Einzelnen gegenüber dem Staat nicht einmal in Betracht gezogen. Ich sagte mir insgeheim: Lasst die Leute doch laufen, wenn sie es unbedingt wollen. Aber dann hätte man keine Mauer zu bauen brauchen, dann wäre es mit dem Versuch einer anderen Gesellschaftsordnung auf deutschem Boden schon viel früher vorbei gewesen. Das konnte keine alleinige Entscheidung der DDR gewesen sein.

Anders als Gorbatschow 1989 war Chruschtschow 1961 auf dem Gipfel seiner Macht. Von Kennedy verlangte er im Juni bei einem Treffen in Wien, die Westmächte sollten einem Friedensvertrag mit der DDR zustimmen und ihre Rechte in Westberlin aufgeben. Dass diese Forderung zurückgewiesen wurde, soll er mit Drohungen beantwortet haben. Am 13. August wurde die Mauer gebaut.

Die damit verbundenen privaten Tragödien zur Sprache zu bringen - es gab Nachholebedarf, aber es wurde in Literatur und vor allem Film auch vermarktet. Anklagend emotional und ideologisch absichtsvoll - wie das Gegenstück zu jenen DDR-Fernsehproduktionen, die vorab als so »wichtig« herausgestellt wurden, dass ich sie mir gar nicht erst angeschaut habe. Grit Poppe, die aus der Bürgerbewegung der DDR kommt, aber unterläuft Erwartungen, scheint sogar für einen Moment das Thema zu wechseln. (Man merkt den Trick natürlich gleich, wenn man zu addieren versteht.)

Von 1986 bis 2002 tauchen wir aus der Perspektive verschiedener Gestalten in eine spannende Handlung ein. Überaus gekonnt, detailliert und dabei bildhaft wird eine schwere Angstpsychose beschrieben mit Wahrnehmungsstörungen und Albträumen: »Das Chaos in mir … Etwas flattert in meiner Brust. Wie ein Vogel, der sich verflogen hat.« Und diesem Vogel wird Hilfe zuteil.

Gibt es den »Hirudo Timor« wirklich? Die Blutegeltherapie kommt ja langsam wieder in Mode gegen Venen- und Gefäßerkrankungen, Kniearthrose, sogar Tinnitus: Die Tiere geben beim Saugen Stoffe ins Blut ab, die gerinnungshemmend und antientzündlich sind, auch von stimmungsaufhellender Wirkung ist die Rede.

Aber das Exemplar, von dem hier die Rede ist, gehört sozusagen schon zur personalisierten Medizin, ist »ein für dich bestimmtes Mittel«, wie die chinesische Heilerin Li Ling verspricht. Mit ihr ist ebenfalls eine spannende Geschichte verbunden. »Zwischen Egel und Engel gibt es nur einen Buchstaben Unterschied«, heißt es auf Seite 122. Grit Poppe erzählt die lichtvolle Geschichte einer Heilung, die allerdings so nicht bleiben kann. Aus Angst kann Zorn werden, Gewalt braucht Widerstand. »Aufstand der Anständigen« - klingt gut, aber was kommt danach? Alle Gestalten im Buch waren bzw. sind von starken Emotionen geleitet, in der Gefahr, einander auch zu verletzen.

Beeindruckend, wie Grit Poppe es versteht, Situationen auszumalen, uns in Augenblicke hineinzuziehen und immer wieder mit Einfällen zu überraschen. Deutsche Geschichte und Seelenzustände, verbunden in einem rasanten Roman. Der Schluss mag folgerichtig sein - künstlerisch vielleicht die einzige Lösung, doch fürs Leben nicht tauglich. Mit einer Pistole in der Hand, ob geladen oder nicht, kann Befreiung nicht gelingen.

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