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Gefangene im eigenen Zuhause
Mehr Gewalt an Frauen und weniger Fluchtmöglichkeit in Zeiten der Quarantäne in China
Nachdem die Standesämter in der zentralchinesischen Metropole Xi’an vor einer Woche erstmals nach dem Ausbruch des neuartigen Coronavirus wieder ihre Pforten öffneten, kam es zu einem bisher nie dagewesenen Ansturm: Die Termine für Scheidungen seien in einigen Behörden bis auf Wochen ausgebucht, berichtete die regierungsnahe Zeitung »Global Times«. »Als Folge der Epidemie hocken viele Paare über einen Monat ununterbrochen zu Hause aufeinander, was viele unterschwellige Konflikte hervorbringt«, wird ein örtlicher Beamter zitiert.
In der Volksrepublik scheint die Epidemie mittlerweile weitgehend unter Kontrolle. Außerhalb der am stärksten betroffenen Provinz Hubei flacht die Wachstumskurve bereits seit einem Monat ab. Dort gibt es laut den offiziellen Statistiken bis auf aus dem Ausland eingeflogene Fälle praktisch keine Neuinfektionen mehr. Der Grund dafür liegt in den drastischen Quarantänemaßnahmen, die von Hausarresten bis hin zu Reiseverboten reichen. Etwa jeder Zweite der 1,4 Milliarden Chinesen ist davon betroffen.
Ein trauriger Nebeneffekt des Alltags unter diesen Bedingungen ist die gestiegene Zahl von Fällen häuslicher Gewalt, von denen Frauenrechtsaktivisten berichten. Laut der Pekinger Nichtregierungsorganisation Weiping seien die Beschwerden von Opfern dreimal so hoch wie noch vor der Quarantäne. Die BBC zitiert die Aktivistin Guo Jing aus dem Virus-Epizentrum Wuhan, laut der sich viele junge Chinesen in verzweifelten Telefonanrufen an sie wandten. Sie berichteten von gewalttätigen Vätern oder Ehemännern und wüssten nicht, an wen sie sich angesichts der Lage für Hilfsangebote wenden könnten. Andere Frauenrechtlerinnen berichten von wortwörtlich »gefangenen« Ehefrauen: Aufgrund der Quarantänebestimmungen und Reisebeschränkungen könnten sie nicht zu Verwandten oder Bekannten, um Unterschlupf zu suchen.
»Seit das Virus ausgebrochen ist, rufen Frauen doppelt so oft bei der Polizei an wie zuvor. Fast alle Fälle häuslicher Gewalt haben indirekt auch mit dem Virus zu tun«, postet Wan Fei, ein pensionierter Polizeibeamter aus dem Landkreis Jingzhou und Gründer einer Frauenrechtsorganisation, in dem sozialen Netzwerk Weibo. Seiner Meinung nach würden viele Konflikte jetzt deshalb eskalieren, weil die Leute ständig unter Angst stünden und Verdienstausfälle wirtschaftlichen Druck herbeigeführt hätten.
In vielen Wohnsiedlungen hängen Anwohner Infozettel an die »schwarzen Bretter«, um vor häuslicher Gewalt zu warnen. »Wir kämpfen gegen das Virus gemeinsam. Ganz egal, welche unterschiedlichen Meinungen Sie haben, ich hoffe, sie benutzen keine Gewalt«, heißt es auf einem solchen auf Weibo geposteten Flyer. »Wenn Sie innerhalb Ihrer Familie oder in der Nachbarschaft Gewalt mitbekommen, dann verständigen Sie die Polizei!«
Ein anderer Nutzer kommentiert: »Durchschnittlich wird in China alle 7,4 Sekunden eine Frau von ihrem Ehemann geschlagen. Allein diese Daten beweisen, dass häusliche Gewalt ›tödlicher‹ ist als das Virus selbst.« Laut offiziellen Statistiken von 2016 haben rund 30 Prozent aller verheirateten Frauen schon einmal Gewalt in den eigenen vier Wänden erlitten. Im selben Jahr hat die Volksrepublik ein längst überfälliges Gesetz zum Schutz vor häuslicher Gewalt erlassen. Erstmals wurde diese überhaupt als Strafdelikt anerkannt.
Gewalt ist die eine Seite, sozioökonomische Benachteiligung die andere. Noch bis 1990 hatte China mit 75 Prozent eine der höchsten Beschäftigungsraten für Frauen. Mittlerweile liegt diese bei nur mehr knapp über 60 Prozent. Auch beim »Gender-Gap-Index« des Weltwirtschaftsforums ist China in den vergangenen zehn Jahren stetig abgefallen - auf den 106. Platz von insgesamt 153 Ländern. Zwar verdienen mittlerweile Chinesinnen im Schnitt mehr als je zuvor, sie sind gebildeter und haben auch eine längere Lebenserwartung. Doch im Vergleich zur männlichen Bevölkerung profitieren sie weitaus weniger vom jahrelangen Wirtschaftsboom des Landes.
Vor allem seit Präsident Xi Jinpings Amtsantritt hat sich zudem das propagierte Frauenbild deutlich gewandelt: Mittlerweile wird die wirklich patriotische Chinesin vor allem für ihre Rolle im Haushalt gepriesen.
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