- Kommentare
- Justizreformen in Polen
Der europäische Rechtsraum bröckelt
Stephan Fischer zur Entscheidung des Oberlandesgerichts Karlsruhe, einen Polen nicht auszuliefern
Es ist eine dieser Meldungen, die in Zeiten wie diesen nur klein in den Nachrichtenspalten auftaucht oder gleich ganz unbemerkt bleiben: »Deutsches Gericht lehnt erstmals wegen Justizreform Auslieferung nach Polen ab.« Dabei offenbart sie kurz einen immer tiefer gehenden Riss durch die Europäische Union - so tiefgehend, dass er existenzbedrohend sein kann.
Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat also entschieden, einen Mann wegen Zweifeln an der künftigen Unabhängigkeit der dortigen Justiz nicht an Polen auszuliefern, und hob den Auslieferungshaftbefehl auf. Begründung: Die Wahrscheinlichkeit sei »hoch«, dass sich die Auslieferung des Mannes »wegen der derzeitigen aktuellen Entwicklungen in Polen im Rahmen der ›Justizreform‹ als zumindest derzeit unzulässig erweist«. Es bestünden »tatsächliche Anhaltspunkte, dass der Verfolgte im Falle seiner Auslieferung einer echten Gefahr der Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren ausgesetzt sein würde«. In Juristendeutsch ist das ein nicht einmal mehr verklausuliertes »Wir wissen nicht, inwieweit wir euren Gerichten noch trauen können«.
Für die polnische PiS (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit) ist der Umbau des Justizsystems ein Kernprojekt, seitdem sie im Oktober 2015 zum zweiten Mal an die Macht in Polen kam. Schnell war das Verfassungsgericht lahmgelegt und so und mit weiteren Schritten de facto die Gewaltenteilung aufgehoben. Jahrelang arbeitete sich die PiS in immer neuen Vorhaben und Details am Justizsystem ab, so dass kaum noch jemand das Gesamtprojekt überschauen konnte und auch der Protest und Widerstand kleiner wurden. Im Februar 2020 unterschrieb der amtierende PiS-Präsident Andrzej Duda nun ein Gesetz, das für die Infragestellung der höchst umstrittenen Justizgesetze disziplinarrechtliche Folgen vorsieht - was die Aufhebung richterlicher Unabhängigkeit bedeutet. »Polen verlässt den europäischen Rechtsraum«, konstatierte daraufhin die Neue Richtervereinigung aus Berlin.
Ungeachtet der Proteste auf den Straßen von Warschau und auch aus Brüssel seitens der EU-Kommissionen oder Luxemburg mit dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) setzt die PiS die Konfrontation mit der eigenen Richterschaft und den europäischen Institutionen fort. Die Unabhängigkeit der polnischen Gerichte ist nicht nur ein Polen betreffendes Problem - sondern eines der gesamten EU.
Im Juli 2018 stand dies schon einmal im Fokus, es ging um den Europäischen Haftbefehl. Ein Pole in Irland hatte sich gegen die Vollstreckung dessen gewehrt, weil wegen der Reformen des polnischen Justizsystems die Gefahr bestehe, dass er in Polen kein faires Verfahren erhalte. Der High Court in Irland wandte sich daraufhin an den EuGH. Der entschied, dass ein nationales Gericht genau prüfen müsste, ob dem Betreffenden ein faires Verfahren garantiert sei. Das war ein weiterer Warnschuss: Schon im Dezember 2017 hatte die Kommission den Rat der Europäischen Union aufgefordert, die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Rechtsstaatlichkeit durch Polen festzustellen, was zu bei der Prüfung zu berücksichtigen sei.
Die EU ist vor allem eine Rechtsgemeinschaft. Ohne einen einheitlichen Rechtsraum würde nicht einmal ein Kernelement der Integration funktionieren, der Binnenmarkt. Staatliche Behörden in der gesamten EU wenden europäisches Recht an, die nationalen Gerichte kontrollieren, im Zweifel urteilt letztinstanzlich der EuGH. In den vergangenen Jahren hat die EU gegenüber Polen - wenn auch spät - immer härter agiert: erst Dialogverfahren, dann Artikel-7-Verfahren, zuletzt Vertragsverletzungsverfahren. Alle Verfahren stoßen allerdings an Grenzen, was Folgen und Sanktionen angeht, im Falle Polens durch die Möglichkeit der Unterstützung des rechtsregierten Ungarns und umgekehrt.
Der EuGH versucht bis jetzt, ohne eigene Urteile auszukommen. Im Falle des Europäischen Haftbefehls wird auch deutlich, warum: Verbietet er eine Auslieferung, weil im Zielstaat kein rechtsstaatliches Verfahren garantiert ist, hilft dies zwar dem Betroffenen, beschädigt aber massiv die Zusammenarbeit bei der Kriminalitätsbekämpfung. Billigt er sie, verschließt er die Augen vor den rechtsstaatlichen Problemen.
Wenn die PiS allerdings ihren Konfrontationskurs fortsetzt, könnte der EuGH bald gezwungen sein, selbst zu urteilen. Egal wie - der gemeinsame Rechtsraum ist nach solch einem Urteil ein anderer.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.