Selenskyj nutzt Coronakrise

Umstrittene Entscheidungen fallen jetzt, da das öffentliche Leben in der Ukraine stillsteht

  • Denis Trubetskoy, Kiew
  • Lesedauer: 3 Min.

Im postsowjetischen Raum gehen die Länder die Bekämpfung des neuartigen Coronavirus unterschiedlich an. Russland hat derzeit über 100 nachgewiesene Fälle und schloss daher ab Mittwoch seine Grenzen für Ausländer, die Hauptstadt Moskau beschränkt Veranstaltungen auf maximal 50 Menschen. In Belarus gibt man sich trotz der bisher bekannten 51 Fällen erstaunlich gelassen, sogar die örtliche Fußball-Liga soll ihre Saison diese Woche mit Zuschauern beginnen, während der ewige Präsident Alexander Lukaschenko Landsleuten scherzhaft Wodka und Dampfbad als Schutz vor dem Coronavirus empfiehlt.

Anders ist es in der Ukraine. Bei offiziell nur 15 Corona-Fällen hat der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj das öffentliche Leben komplett runtergefahren. Nicht nur hat man Grenzen geschlossen und dabei alle Flug-, Bus- und Zugverbindungen gestrichen. Seit Dienstag sind nur Apotheken, Banken, Supermärkte, Tankstellen und ähnliche Einrichtungen offen. Am Mittwoch machte sogar die U-Bahn in den Städten zu. Der öffentliche Verkehr innerhalb der Ukraine ist ebenfalls untersagt.

Die gebliebenen ÖPNV-Mittel innerhalb der Städte haben neue Einschränkungen. Offiziell dürfen nur noch bis zu zehn Passagiere aufgenommen werden, in Städten wie Kiew darf man ohne Schutzmaske nicht rein. In der Praxis funktionierte das am Mittwochmorgen kaum, die Schließung der U-Bahn führte vielmehr zu den riesigen Schlangen bei den Kiewer Haltestellen. Die ukrainische Regierung will aber ihre Strategie keinesfalls ändern. »Wir müssen schnell und hart handeln - und eventuell uns unbeliebt machen«, so Selenskyj in einer seiner Ansprachen.

Während die Schließung der U-Bahn Kritik auslöst, ist die Corona-Angst der Ukrainer verständlich. Zum einen sind in der Ukraine bei der kleinen Fallzahl bereits zwei Menschen gestorben, darunter eine 33-jährige Frau. Zum anderen wurden bisher weniger als 200 Ukrainer auf Covid-19 getestet. Die Befürchtung, die tatsächliche Situation sei viel komplizierter, ist durch die tiefe Verbindung des Landes mit der EU begründet. Bereits drei Jahre in Folge bekommen die Ukrainer die meisten Aufenthaltsgenehmigungen in der Union. Seit der Erteilung der Visafreiheit mit dem Schengen-Raum werden Ukrainer zudem zunehmend für illegale Saisonarbeit in der EU eingesetzt.

Doch es ist nicht nur die Gesundheit der Landsleute, die eine Rolle spielt. Wolodymyr Selenskyj will offenbar die Quarantäne dazu nutzen, um in der protestlosen Zeit umstrittene Projekte durchzusetzen. »In der Zeit einer Pandemie und der drohenden Finanzkrise muss das Parlament weiterarbeiten und Reformen verabschieden«, betonte der Präsident. Dabei geht es vor allem um die in der Bevölkerung unbeliebte Öffnung des Bodenmarktes, die als Bedingung für einen neuen IWF-Kredit gilt.

Stand jetzt sollen die Abgeordneten bis zum 3. April in ihren Ausschüssen arbeiten, sie sollen jedoch auch bereit sein, bei der Notwendigkeit innerhalb von 24 Stunden für eine Parlamentssitzung zusammenzukommen. Allerdings sind Teile der Präsidentenfraktion Gegner der Bodenreform - wegen ihrer grundsätzlichen Unbeliebtheit, denn viele Ukrainer fürchten trotz Schutzmaßnahmen den Ausverkauf des ukrainischen Bodens ans Ausland.

Ein weiterer Punkt ist der Krieg im Donbass. Bei den Friedensverhandlungen im belarussischen Minsk ist es vergangene Woche zur Einigung wegen der Gründung einer neuen Beratungsgruppe gekommen, zu der jeweils zehn Vertreter der Ukraine und der prorussischen Separatisten gehören sollen. Die offizielle Gründung soll Ende März verkündet werden, sie wäre ein unerwarteter Schritt seitens von Kiew. Von der nationalorientierten Opposition ist harte Kritik an diesen Schritt zu hören, der als »Verhandlungen mit den Terroristen« abgestempelt wird. Und auch rund 50 Vertreter der Präsidentenfraktion, die im Parlament die absolute Mehrheit besitzen, protestierten gegen die Entscheidung. Es ist trotzdem wahrscheinlich, dass Selenskyj die negativen Folgen der Corona-Pandemie ausnutzt und seine Friedensoffensive im Donbass aufgrund der ausgeschlossenen Massenproteste fortsetzt.

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