Stillstand der Weißwurstmetropole

Letzte Friseurtermine und Galgenhumor: Wie München den ersten Tag der Ausgangsbeschränkungen erlebte

  • Rudolf Stumberger, München
  • Lesedauer: 3 Min.

Samstag, 21. März 2020. Der erste Tag der »Ausgehbeschränkung« in Bayern aufgrund der Coronavirus-Krise. Niemand weiß, wie viele noch folgen werden. Es ist ein nasskalter, trüber Tag. Eigentlich gut, um es sich zu Hause gemütlich zu machen. Und das tun die meisten denn wohl auch, zumindest in der Landeshauptstadt. Nur wenige Menschen sind gegen zehn Uhr vormittags auf der Straße. Der Autoverkehr ist deutlich reduziert. Es liegt eine seltsame Atmosphäre über München: wie an einem ruhigen Sonntagmorgen und doch anders. Einen Tag mit solchen Einschränkungen haben die Allermeisten noch nie erlebt. Die Menschen sind verunsichert, aber es gibt auch Anzeichen von Normalität: Der Briefträger ist noch mit seinem gelben Postfahrrad unterwegs. Busse und Trambahn fahren. Ein Lärmterrorist nervt mit seinem Laubbläser.

Das Glockenbachviertel, sonst die Partymeile der Stadt, ist nahezu ausgestorben. Supermärkte und Bäcker sind geöffnet, alle anderen Läden haben dichtgemacht. Beim Edeka in der Holzstraße haben sie den Platz vor der Wurst- und Fleischtheke mit Plastikkörben verbaut, so dass die Kunden einen Sicherheitsabstand zum Verkäufer einhalten müssen. In diesem Laden hält der Klopapiermangel noch an, auch das Regal mit den Suppen- und Eintopfdosen ist ziemlich ausgeräumt. Doch diesmal keine Schlange vor der Kasse. In der Lindwurmstraße kontrolliert vorm Sendlinger-Tor-Platz die Polizei die Autofahrer. Draußen auf dem flachen Land, in Großhelfendorf, gibt die Polizei über Lautsprecher bekannt: »Bitte bleiben Sie wegen der Ansteckungsgefahr zu Hause!« »Da denkst du, du bist in einem Science-Fiction-Film«, sagt Elisabet S., die dort mit ihrem Ehemann und dem erwachsenen Sohn lebt. Alle drei machen auf Homeoffice.

In den Münchner Boulevardzeitungen (wie überhaupt allen Medien) gibt es nur ein Thema, »Bild« bleibt sich treu: »Gott schütze unsere Heimat.« Die anderen titeln »Was wir jetzt noch dürfen« oder »Zu Hause bleiben! Zufrieden bleiben!« Etwas anders die Inschrift, die auf einen Trafokasten im Münchner Westend gesprüht wurde. »Wenn einem erstmal ins Hirn ge…. wurde, wird kein Klopapier der Welt das wieder bereinigen können!«

Das öffentliche Leben in Bayern ist an diesem Wochenende zum ersten Mal radikal heruntergefahren. Gaststätten bleiben ebenso geschlossen wie Biergärten, Cafés und Kaufhäuser. Auch die Baumärkte mussten ihre Pforten schließen, deshalb gab es am Freitag noch einen Ansturm der Kunden. Schließen mussten auch die Friseurläden. Freitagabend, 17 Uhr, also vorläufig der letzte Haarschneidetermin. Neu ist, man muss sich im Laden erst mal die Hände waschen, auch das Haarewaschen ist vor dem Schneiden nun obligatorisch. So habe es die Friseurinnung vorgeschrieben, ist zu hören. »Was machen Sie während der nächsten Wochen?«, wird eine der Frauen gefragt, die an den Haaren der letzten Kunden herumschnippeln. »Fensterputzen oder Ähnliches«, lautet die Antwort. Die Stimmung ist etwas seltsam. Ein paar Witze über das Klopapier-Hamstern. Ein junger Mann erklärt nach dem Haareschneiden: »So, jetzt bin ich schön für das Homeoffice.« Im Friseurladen arbeiten neben der Meisterin zwei Angestellte und eine Auszubildende. Sie sind ab Montag in Kurzarbeit.

Wie nehmen die Münchner die Freiheitsbeschränkungen auf? Relativ gelassen. »Die Kinder muss man halt überzeugen«, sagt Beatriz M., die mit ihren zwei Töchtern und dem Ehemann in München Obermenzing wohnt. Beide Eltern können zu Hause arbeiten. Die Polizei meldet, die Ausgehbeschränkung werde weitgehend eingehalten - kein Wunder bei dem nasskalten Wetter. Die Schneefallgrenze ist auf 500 Meter gesunken. Nur ein paar Pizzalieferanten quälen sich am Samstagabend mit ihren Rädern durch den Regen.

Dass den Leuten der Humor auch in der Krise nicht vergeht, macht ein Handzettel deutlich, der im Glockenbachviertel an den Klingelschildern klebt. Darauf wirbt ein »Gin-Lieferant« für die »Schluckimpfung - hilft nix, schmeckt aber«. Lieferung kontaktlos frei Haus.

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