Die Rückkehr der Obsessiven

Kampfstern Corona (Teil 5): Speichel

Dieser Tage fehlt ja die sogenannte Normalität. Vieles ist anstrengend. Viele wünschen sich ihren alten Alltag zurück. Es gab aber allerdings schon vor dieser Krise Menschen, die sich genau so verhalten haben, wie es nun viele wegen der Coronakrise tun müssen. Gerade für diese Personen war der alte Alltag eher schwierig. Menschen, die etwa beim Händewaschen in der Bürotoilette tadelnd von Kolleg*innen angestarrt wurden, weil ihr Waschvorgang etwas länger dauerte als drei Sekunden, und daher etwas mehr Wasser verbraucht wurde. Noch seltsamer die Situation, wenn der Wasserhahn mit einem Papiertuch zugedreht wurde – da kam noch das besserwisserische Kopfschütteln hinzu: wie obsessiv!

Nun ist dies der neue Alltag, diese »Obsession«: In vielen Büros tauchen auf einmal Anweisungen zum 20-sekündigen Händewaschen in Piktogrammen auf. Manche Medien empfehlen sogar Lieder, damit die Leute keine Langeweile haben müssen beim Händewaschen: beispielsweise zwei Mal »Happy Birthday« singen, alternativ dazu, wenn man die Nase voll hat von dem Geburtstagslied: der Refrain von Pink Floyds »Another Brick in the Wall« (»We don’t need no education«) oder Lady Gagas »Bad Romance« (»Ra-ra-ah-ah-ah«).

Kampfstern Corona
Der Kampfstern Corona strahlt so hell, dass es weh tut. Besiegt uns das Virus oder macht es „nur“ unseren Alltag kaputt? Oder wird nun alles ganz anders? Beobachtungen und Überlegungen in loser Folge.

Schon seit jeher gab es eine – eher asiatische – Körperhaltung: beim Sprechen die Hand vor den Mund zu halten. Aus Höflichkeit und damit der Speichel beim Reden das Gegenüber nicht erreicht. (Schauen Sie sich mal alte koreanische Serien an!) Und nein, das, was Sie von den jüngsten Fußballweltmeisterschaften kennen, ist hier nicht gemeint – wo die Trainer*innen vor den Kameras mit einer Hand vor dem Mund mit ihren Assistent*innen kommuniziert haben, damit andere das hochvertrauliche Gespräch nicht von den Lippen ablesen können.

Jetzt, während der Coronakrise, soll eine Maske die Rolle jener Körperhaltung übernehmen. Und interessanterweise wird diese eher in jenen asiatischen Ländern massenweise getragen. Nicht aufgrund des Selbstschutzes, sondern des Fremdschutzes. Hierzulande gibt es ja keine Masken mehr zu kaufen, doch es gibt zahlreiche Videos, wie man selber welche anfertigen kann. Warum tut man das nicht? Weil man das wohl peinlich oder unnötig findet. »Die Obsessiven« haben sich jedoch schon Masken selbstgebastelt, und tragen diese auch und fallen damit auf oder trauen sich noch nicht – etwa wegen der tadelnden Toiletten-Kolleg*innen.

Bald wird das Maskentragen aber auch in Deutschland in der Öffentlichkeit allgegenwärtig. Besonders gut vor allem für diejenigen, die auch in der Krise weiter arbeiten gehen müssen: Man muss beim Reden nicht mehr unbedingt die Spucke anderer abbekommen. Und endlich müssen sich »die Obsessiven« nicht mehr verstecken, können ruhig durch die Gegend laufen und sich weiter so verhalten, wie sie es immer schon taten oder tun wollten. Sie können sich sogar in vielen Situationen jetzt laut beschweren, die früher für sie eine Qual gewesen sind: Etwa, wenn Kinder, die in der U-Bahn neben einem sitzen, sich die ganze Faust in den Mund schieben und einem dann die Hand reichen wollen (und deren Eltern das besonders süß finden). Oder wenn die Hunde anderer einen ablecken, nur weil man sich gerade in der Nähe befindet (und ihre Besitzer*innen sich freuen: »Ach, der möchte sich nur anfreunden«). Wenn manche zum Beispiel die Fingerspitze mit der Zunge befeuchten, um einem Papier oder Geldscheine zu geben. Wenn Menschen, die verdammt laut sprechen, einen dabei anspucken. Wenn Personal, das zwar Handschuhe trägt, ohne diese auszuziehen Geld annimmt und dann weiter etwa Sushi rollt.

Jetzt sehen es viele plötzlich genauso, dass solches Verhalten nicht in Ordnung ist. Es gibt zwar noch einige »coole« Typen, die meinen: »Mann, das alles ist so übertrieben, der Mensch braucht doch etwas Keime!« Und dann das Eis zusammenschieben, das auf den Asphalt gelandet war, es aufheben und weiteressen. Oder sie lecken einfach – so neulich in München – die Griffe in der U-Bahn ab, um zu zeigen, was für harte Kerle sie sind. Aber etliche sind nun etwas »obsessiver« geworden. Und weniger egoistisch. Schön eigentlich.
Brauchte es aber unbedingt eine Pandemie, damit verstanden wird, dass man den Speichel anderer Menschen – und Tiere – nicht überall um und an sich haben will oder süß finden muss? Wenn die Normalität wieder zurückkehrt, bleibt hoffentlich etwas von dieser Social-Distancing-Kultur übrig. Hoffentlich bleiben die Scheiben zwischen den Kund*innen und Kassier*innen in den Supermärkten erhalten, und Handschuhe und Masken in der Gastronomie. Hoffentlich halten Menschen beim Reden etwas mehr Abstand oder zumindest die Hand vor ihren Mund.

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