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Educational Standing

sonntagmorgen

  • Volker Surmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Ich habe ein neues Hobby. Einfach mal stehen bleiben. Das klingt nicht sehr spannend, ist es aber. Denn natürlich bleibe ich nicht allein auf weiter Flur stehen. Das wär wirklich langweilig. Es sei denn, man wollte immer schon mal in aller Ruhe verstauben oder von Spinnen benetzt werden. Nein, ich bleib auf Gehwegen stehen. Oder in U-Bahn-Unterführungen, an Bahnsteigen, gehöre aber nicht zu den Trotteln, die am Ende von Rolltreppen oder vor frisch geöffneten Zugtüren stehenbleiben, um sich erst mal umzuschauen, wo man sich denn gerade befindet, als wäre die Antwort nicht offensichtlich: »VOR ’NER ZUGTÜR, DU PFOSTEN!« Aber wer weiß? Vielleicht ist der Bahnsteig an der Berliner Friedrichstraße heute ja nur 30 Zentimeter breit, und dahinter beginnt ein ungesicherter Abgrund, wo man in glühende Lava fällt, das muss man doch erst mal sondieren, gemach, gemach!

Ich erinnere mich noch an den bedauernswerten Lehrer auf Klassenfahrt, der seinen Schüler*innen in der vollbesetzten U8 zurief: »Am Alex steigen wir alle aus und sammeln uns dann vorne vor der Rolltreppe!« Das war das letzte, was ich von ihm hörte, dann wurde er von einem wütenden Mob Berliner Pendler niedergerungen.

Ich provoziere keine Auflaufunfälle, sondern bleibe stehen, wenn mir Menschen entgegenkommen. Das ist total spannend, was man da so erlebt. Vor allem, wenn die Menschen gerade nicht entgegenkommend gucken. Sondern auf ihr Smartphone. Dann bleibe ich am liebsten stehen. Wie reagieren unaufmerksame Mitmenschen, wenn man ihnen nicht mehr gewohnheitsgemäß präventiv ausweicht?

Ich kann so viel sagen: Wenn Sie Spaß an verdatterten Gesichtsausdrücken haben, und es Ihnen nichts ausmacht, gelegentlich mit heißem Cappuccino überschüttet zu werden, dann ist dieses Hobby auch was für Sie. Es ist eine leise, unaufgeregte Maßnahme der Alltagspädagogik, ganz ohne das berlintypische Rumgemoppere. Educational Standing.

Die Realisierungsdistanz, also der Abstand zu Ihnen zum Zeitpunkt der Erkenntnis, dass man sich nicht allein auf dem Trottoir bewegt, beträgt meinen Feldstudien zufolge einen knappen Meter. Das ist verdammt nah, wenn man selbst gerade läuft. Dann diese erschrockenen Mienen, wenn die Leute plötzlich aufblicken und realisieren, dass es auch noch jenseits von Instagram Gesichter gibt! Diese weit aufgerissenen Augen! Dieser wunderschöne Moment der Irritation, wo denn jetzt plötzlich diese Gestalt da herkommt. Ein Mensch! In der Öffentlichkeit! Auf dem Gehweg! Ei der Daus, wer rechnet denn mit so was!? Dann das Durchsickern der peinlichen Erkenntnis, dass man einfach nicht aufgepasst hat. Das augenblickliche Rotwerden, die hektisch gemurmelte Entschuldigung und das panische Überlegen, wie man denn mit einem Fünkchen Restwürde elegant ausweicht, wenn man schon Nase an Nase voreinander steht. Bleiben Sie da ja standhaft! Nehmen Sie bloß nicht die Spannung aus der Situation durch ein voreiliges Lächeln oder verfrühtes Ausweichen. Solch einen Schock vergisst man ein paar WhatsApp-Nachrichten lang nicht. Volker Surmann

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