- Politik
- Coronavirus-Pandemie
1,3 Milliarden Inder lahmgelegt
Millionenstädte müssen Notversorgung von Wanderarbeitern organisieren
Die Sirene tönt durch die Straßen Süd-Mumbais. Man könnte glauben, es sei wieder einmal Wahlkampf in Indien - doch dieser Tage wirbt die Stadtverwaltung dafür, nicht das Haus zu verlassen. Denn in Indien gelten für 1,3 Milliarden Menschen strikte Ausgangsbeschränkungen. Über 1000 Coronafälle hat das Land bisher bestätigt. Die westindische Metropole ist besonders betroffen. Gerade die Viertel der Reichen hat es erwischt. Noch sind es meist Fälle, die auf Auslandsreisen oder direkten Kontakt mit Covid-19-Infizierten zurückzuführen sind. Allerdings verzeichneten auch die Slums, in denen etwa acht Millionen Menschen auf engstem Raum leben, die ersten Coronafälle.
Im Bundesstaat Maharashtra, dessen Hauptstadt Mumbai ist, wurde das öffentliche Leben schrittweise auf ein Minimum reduziert. Zumindest hier kam der sogenannte Lockdown des Subkontinents nicht überraschend. Premierminister Narendra Modi forderte vergangene Woche, dass möglichst viele Menschen ihre Unterkünfte nicht verlassen und für drei Wochen räumliche Distanz wahren sollen.
Die Regierung ergriff die drastische Maßnahme zur Eindämmung der Corona-Pandemie, nachdem sie zuvor den internationalen Flugverkehr ausgesetzt und Exportbeschränkungen für Medikamente erlassen hatte. Es scheint, die Warnungen, dass Indien sich zu einem Corona-Brennpunkt entwickeln könnte, hätten gewirkt. Doch nun stehen viele vor dem Aus. Geld verdienen können nur noch wenige. Der 60-jährige Naresh will so lange weiter mit einem Stofftaschentuch vor dem Mund am Straßenrand sitzen und Gemüse verkaufen, wie ihn die Behörden lassen und er Nachschub bekommt. Gänge, um Lebensmittel zu kaufen, oder zur Apotheke sind weiterhin erlaubt. Andere Erledigungen sind verboten, und die Polizei setzt die Beschränkungen wenn nötig mit Gewalt um.
Unterdessen fliehen Indiens Tagelöhner zurück aufs Land. Sie nehmen ihre Kinder auf die Schultern und machten sich zu Fuß auf den langen Weg nach Hause, da Bus und Bahn ausgesetzt wurden. Bei ausbleibendem Einkommen ist für sie das Leben in den Großstädten zu teuer. Besonders in der Hauptstadt Delhi kam es dieser Tage zu dramatischen Szenen. Ausgehungert wanderten viele auf den leeren Autobahnen; andere warteten verzweifelt auf Busse, die nun doch bereitgestellt werden.
Die Regierung hatte verkannt, welche Dynamik sie auslösen würde. Modi, der die strikten Maßnahmen per Dekret angeordnet hatte, entschuldigte sich im Nachgang bei den Armen, die er in eine Notlage versetzt hatte. Delhis Regierungschef Arvind Kejriwal appellierte an die Verbliebenen, in der Stadt zu bleiben, damit sich das Virus nicht weiter verbreitet, und versprach nötige Versorgung vor Ort. In Mumbais Vorstädten wurden Schulen und Regierungsgebäude in Notunterkünfte umgewandelt. Denn auch zu Hause sind viele Wanderarbeiter unerwünscht. Die Angst vor Corona verfolgt sie. Am Sonntag forderte Modi schließlich die Bundesstaaten auf, ihre Grenzen zu schließen, um ein Ausbreiten des Coronavirus zu verhindern.
Noch bevor Lokalregierungen einsprangen, waren es Nichtergierungsorganisationen, die Menschen mit Essen auf den Straßen versorgten. Vergangenen Donnerstag reagierte Delhi: Ein Rettungspaket im Umfang von 21 Milliarden Euro sollen gut 60 Prozent der Bevölkerung zugute kommen. Dabei handelt es sich um Lebensmittelhilfen und Direktüberweisungen auf die Konten von Bedürftigen, die bereits Sozialleistungen erhalten. Die nächsten drei Monate sollen bis zu 800 Millionen Menschen monatlich Getreiderationen erhalten. Ab April werden die Bauern finanziell unterstützt. Sie müssen ihre Felder abernten, bevor alles verdirbt.
Selbst wenn es unmöglich scheint, so viele Menschen quasi unter Hausarrest zu stellen - gegen skurrile Falschmeldungen oder Gläubige, die bis zuletzt nicht vom Gebetsbesuch ablassen wollten, könnte die Ausgangssperre helfen. Den Wirtschaftsmotor Mumbai abzudrehen war kein leichter Schritt für die Stadtregierung. Milliardenschwere Industrien mussten ihre Arbeit niederlegen. Außer Lebensmittelbetrieben dürfen nur die Börsen und Bankgeschäfte weiterlaufen. In der 20-Millionen-Stadt ist es still geworden.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.