Verehrung schlug in Verachtung um

Andreas Heyer stieß im Nachlass des Sozialphilosophen Wolfgang Harich auf eine merkwürdige Affinität zu Arnold Gehlen

  • Alexander Amberger
  • Lesedauer: 5 Min.

Er war ein intellektueller Außenseiter, in einer seltsamen Sonderrolle zwischen durchaus politischem Einfluss und der Ohnmacht eines Wissenschaftlers: Wolfgang Harich, der vor 25 Jahren in Berlin verstarb. Man könnte ihn auch als einen tragischen Helden bezeichnen. Nachdem er 1957 im Schauprozess gegen die von der DDR-Justiz konstruierte »Gruppe Harich« aussagen musste, brach der Kontakt zu Freunden und Vertrauten wie Walter Janka, Ernst Bloch und Georg Lukács ab, viele wollten oder durften nichts mehr mit ihm zu tun haben.

1923 in Königsberg (Kaliningrad) geboren, hatte Harich bereits als Abiturient Philosophievorlesungen an der Berliner Universität besucht, die heute den Namen der Humboldt-Brüder trägt. Er hörte dort »bürgerliche« Philosophen wie Eduard Spranger oder Nicolai Hartmann. Zugleich kam er mit marxistischen Schriften in Kontakt und war aktiv in einer Widerstandsgruppe gegen das NS-Regime.

Im Unterschied zu manch’ anderem marxistischen Theoretiker in der DDR hielt Harich die Schriften der »Klassiker« für nicht ausreichend, um alle Fragen der Philosophie klären zu können. Deshalb versuchte er, Elemente nichtmarxistischer Philosophie für das linke Denken fruchtbar zu machen. Gleich Bloch, Lukács und anderen wagte er den Blick über den ideologischen Tellerrand hinaus, er zeichnete sich durch undogmatisches Herangehen an Fragen der Logik, der Naturwissenschaften und vor allem des Erbes der deutschen Ideengeschichte aus. Harich erkannte insbesondere in Bezug auf Ontologie, Ethik und Ästhetik Lücken im marxistischen Kanon und sah vor allem in der Anthropologie großen Nachholbedarf. Ärger mit der SED-Führung war somit programmiert.

In seinem Nachlass, seit 2013 vom Politikwissenschaftler Andreas Heyer sukzessive herausgegeben, finden sich zahllose, teils unveröffentlichte Schriften. Die jüngst edierten Bände enthalten Texte zu Nicolai Hartmann, Arnold Gehlen und Friedrich Nietzsche; die beiden letzteren galten in der DDR als (prä-)faschistisch. Doch wie geriet der Antifaschist und Marxist Harich an einen Alt-Nazi in der Bundesrepublik? Heyer klärt auf. Auf den Antisemiten, ehemaliges Mitglied der NSDAP und des NS-Dozentenbundes Gehlen stieß Harich im Zuge seiner intensiven Forschung zu Johann Gottfried Herder, Vertreter der Weimarer Klassik, und dessen anthropologische Texte. Gehlen galt als Experte für dessen Leben und Werk. Aus wissenschaftlichem Interesse kontaktierte Harich um 1950 erstmals den konservativen bundesdeutschen Philosophen, da er einen Austausch mit diesem für unabdingbar zur Weiterentwicklung des Marxismus sah. Was die SED erwartungsgemäß anders einschätzte.

Wie so häufig erschien Harich auch hier etwas weltfremd. 1952 glaubte er tatsächlich, Gehlen ideologisch bekehren zu können, würde dieser nur marxistische Schriften studieren. Er würde dann umgehend die bürgerliche Philosophie und Soziologie durchschauen, und »dann endet er unweigerlich als Bolschewik!!!«, lautete Harichs naive Annahme. Es wäre sodann nur ein konsequenter Schritt, Gehlen einen Lehrstuhl an der Humboldt-Universität anzubieten. Und genau das tat Harich in Eigeninitiative. In einem langen Brief an Gehlen bemängelte er geistiges Elend an der Philosophischen Fakultät der Ostberliner Alma mater sowie anthropologische Defizite im Marxismus. Erst nach einem privaten Besuch bei Gehlen in Speyer ließ Harich von weiteren Werbungsversuchen ab. Endlich war ihm die Sinnlosigkeit des Unterfangens aufgegangen. Dennoch blieben beide bis zu Harichs Verhaftung 1956 in Kontakt.

Nach der Entlassung aus dem Zuchthaus Bautzen 1964 nahmen die beiden, die unterschiedlicher nicht sein konnten, vorsichtig wieder die Verbindung auf. Einigkeit bestand zwischen ihnen vor allem in ästhetischen Fragen. Beide verband damals gleichermaßen die Ablehnung von Tendenzen der Moderne in Kunst und Literatur sowie die Wertschätzung der Klassiker von Platon bis Goethe. Beide standen auch den antiautoritären Bestrebungen eines Teils der 68er ablehnend gegenüber. Die Beschreibung des Menschen als »Mängelwesen«, das erst in einer von Institutionen gefestigten Gesellschaft sein volles Potenzial entfalte, war einer der Kerngedanken Gehlens. Auch Harich war von der Notwenigkeit von Institutionen überzeugt. Gehlen wünschte sich jedoch den institutionellen Status quo historisch eingefroren, plädierte für eine »formierte Gesellschaft« - was Harich hingegen für konservativen Nonsens hielt, da man den Lauf der Geschichte nicht einfach anhalten könne. Er war der Ansicht, überlebte Institutionen dürfen und müssen verschwinden. Gänzlich könne man jedoch auch im Kommunismus nicht auf Institutionen verzichten.

In seinem Hauptwerk »Kommunismus ohne Wachstum?« (1975) bekräftigte Harich seinen Standpunkt mit dem Verweis auf die ökologische Krise. Die Rettung der Welt könne nur »von oben«, durch starke Institutionen erfolgen. Das Individuum sei dazu zu schwach. Diesbezüglich bedauerte Harich auch, dass der Marxismus-Leninismus nicht über eine Theorie der Bedürfnisse verfüge. Hier könne Gehlen als Ideengeber dienen. Dessen Kritik des westlichen Massenkonsums in der Industriegesellschaft und des damit einhergehenden kulturellen Verfalls wurde von Harich bejaht. Durch die Industrialisierung seien aus Luxusgegenständen Massenprodukte geworden, was letztlich negative Folgen nach sich ziehe. Nach Gehlens Tod 1976 schrieb Harich an dessen Familie: »Erschüttert verneige ich mich vor der Totenbahre Arnold Gehlens, des bewunderten Feindes und geliebten Menschen.«

Die Verehrung sollte jedoch ein Jahrzehnt später in Verachtung umschlagen. Harich hatte entdeckt, dass Gehlen zentrale Elemente seines Hauptwerkes »Der Mensch« (1940) aus dem Buch »Das Menschheitsrätsel« (1922) des jüdischen Anthropologen Paul Alsberg übernommen hatte, ohne dies ausreichend kenntlich zu machen. Er bezichtigte Gehlen nun eines intellektuellen »Arisierungsverbrechens«. Alsberg war 1933 von den Nazis inhaftiert worden und hatte im Jahr darauf Deutschland verlassen müssen. Die teils verzweifelten Briefe von Harich diesbezüglich im letzten Kapitel des elften Nachlassbandes zeugen von einer grundtiefen Enttäuschung.

Wolfgang Harich: Arnold Gehlen. Eine marxistische Anthropologie? Schriften aus dem Nachlass Wolfgang Harichs. Band 11. Hg. von Andreas Heyer. Tectum, 596 S., geb., 59,95 €.

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