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Nicht nur in Schönwetterzeiten

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger über die Gültigkeit von Freiheitsrechten auch in Zeiten der Pandemie

Sie ist in diesen Tagen eine viel gefragte Interviewpartnerin: Sabine Leutheusser-Schnarrenberger. Ihre erste Amtszeit als Bundesjustizinisterin hatte die FDP-Politikerin und studierte Juristin aus eigenem Entschluss beendet, da sie die Entscheidung der damaligen Bundesregierung zum »Großen Lauschangriff« nicht mittragen wollte, die später vom Bundesverfassungsgericht kassiert worden ist. Die Liberale, die sich dank ihres engagierten und couragierten Auftretens großer Beliebtheit in der Bevölkerung erfreut, ist Mitglied des Bundesvorstandes und des Präsidiums ihrer Partei.

Frau Leutheusser-Schnarrenberger, einige Medien und Politiker mahnen eine rasche Exit-Strategie von der Bundesregierung an, sehen die Gefahr einer eventuell dauerhaften Beschädigung respektive Aushöhlung der Grundrechte im Gefolge der Corona-Pandemie. Sie auch?
Die Gefahr besteht durchaus, wenn zu lange und mit immer neuen Maßnahmen die Grundrechte eingeschränkt werden. Deshalb ist es wichtig zu überlegen, wie wir schrittweise aus der Krisensituation wieder herauskommen. Es gilt, Angriffen auf das Grundgesetz zu wehren, die notwendigen Einschränkungen von Freiheitsrechten so gering wie möglich und zeitlich begrenzt zu halten.

Im vergangenen Jahr erschien Ihr Buch »Angst essen Freiheit auf« - man könnte den Titel wie eine Prophezeiung lesen. Laut Umfragen ist die Mehrheit der Bundesbürger einverstanden mit den restriktiven Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie und bereit, dafür einen Preis zu zahlen. Erfordern nicht in der Tat außergewöhnliche Zeiten außergewöhnliche Maßnahmen?
Wir erleben im Moment eine Krise, wie es sie seit der Gründung der Bundesrepublik nicht gegeben hat. Der Staat ist zum Krisenmanager avanciert. Aber auch in außergewöhnlichen Zeiten müssen die Grundrechte respektiert und garantiert werden. Die Bürger haben verständlicherweise Angst, dass sie oder ihre Familienmitglieder infiziert werden könnten, vielleicht gar mit tödlichem Ausgang. Da sind sie leider auch bereit, Freiheitsrechte hintenan zu stellen, massiven Beschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit und ihrer Grundrechte den Vorrang einzuräumen. Angst essen Freiheit auf.

Deshalb muss es Stimmen geben, die immer wieder daran erinnern: Freiheitsrechte sind universal, gelten in jeder Situation, wenn auch nicht immer im vollen Umfang. Wir müssen auf der Hut sein, dass Freiheitsrechte nicht als beliebige Werte angesehen werden, die man sich in Schönwetterzeiten leisten kann, aber auf die man notfalls auch verzichten kann. Einer Abwertung der Freiheitsrechte, aus welchen Motiven auch immer, möchte ich energisch widersprechen und entgegenwirken.

»Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt«, sagte Immanuel Kant. Ist die Mahnung des Königsberger Philosophen nicht zu beherzigen? Gemeinwohl geht über individuelles?
Natürlich gilt Kant immer, nicht nur in Krisenzeiten. Keine Freiheit ist grenzenlos. Ellenbogenmentalität schadet jedem Gemeinwesen. Stärkere haben nicht das Recht, auf Kosten der Schwächeren zu leben. Wenn Millionen Menschen sich infizieren und eine Lebensbedrohung für Hunderttausende aus Risikogruppen bedeuten, ist eine Beschränkung von Individualinteressen angebracht und gerechtfertigt - jedoch stets verhältnismäßig, limitiert und immer wieder aufs Neue abgewogen.

Sie leben in Bayern. Sind Sie mit den Maßnahmen von Ministerpräsident Markus Söder zufrieden, der teils die Regierungschefs der anderen Bundesländer und den Bund selbst erst »auf Trab« gebracht hat?
Markus Söder ist einer, der zupackt, der problematische Situationen erkennt und - wenn es notwendig erscheint - den Bürgern signalisiert, dass hier eine Regierung ist, die bereit ist zu handeln. Deshalb erfährt er auch breite Zustimmung in der bayerischen Bevölkerung. Das heißt nicht, dass alles, was er tut, immer mit großem Lob versehen werden muss und er alles richtig macht. Etwa wenn er der Ärzteschaft, die sich selbst organisieren kann, Vorschriften macht und sie verärgert. Markus Söder weiß, dass es in Krisen einen Manager braucht, und da hat er bisher seine Rolle im Großen und Ganzen gut gespielt.

Sie werden jetzt aber nicht zur CSU übertreten?!
Nein, ich bleibe eine Liberale in der Opposition. Die Opposition hat Markus Söder bei seinem Infektionsschutzgesetz ein Mitspracherecht des Landtages abgerungen. Die Demokratie braucht lebhafte, handlungsfähige und debattierfreudige Parlamente auf allen Ebenen.

Erweist sich jetzt der Föderalismus nicht als ein Hemmnis, gar historisch überholt?
Der Föderalismus hat Vorteile, aber auch einige Nachteile. Ich sehe durch die jetzige Krise keine grundsätzliche Notwendigkeit, den Föderalismus zu überdenken oder gar abzuschaffen und einen Zentralstaat in Deutschland zu etablieren. Föderalismus heißt auch Nähe zum Bürger, zum Menschen vor Ort. Es ist nur natürlich, wenn eine Landesregierung in Bayern oder in Nordrhein-Westfalen anders agiert als etwa die von Mecklenburg-Vorpommern. Ich würde mir aber wünschen, dass sich die Länder besser aufeinander abstimmen, miteinander diskutieren, um möglichst weitgehend zu einheitlichen Regelungen zu kommen, ob es nun Kontaktverbote oder Ausgangsbeschränkungen betrifft. Auch mit dem Bund. Das wäre gelebter Föderalismus. Es verwirrt die Bürger, wenn jeder sein Ding nach seinem Gusto durchsetzen will.

Sie haben nichts gegen Ausgangsbeschränkungen?
Es geht jetzt vor allem darum, Leben zu retten. Deshalb halte ich Ausgangsbeschränkungen im Moment für vertretbar, finde jedoch die Variante des Kontaktverbots in Nordrhein-Westfalen, das die Möglichkeit des Treffens mit einer fremden Person ermöglicht, flexibler und besser für das Wohlbefinden der Bürger, als wenn man ausschließlich mit seiner Familie unterwegs sein darf. Generell ist es dringend geboten zu überprüfen, ob wir diese Einschränkungen noch nach dem 19. April benötigen. Um Lockerungen wieder einzuführen, sollten der Selbstschutz der Bürger und Bürgerinnen verbessert und mehr Tests durchgeführt werden.

Vor allem einflussreiche Kreise der Wirtschaft drängen vehement auf rasche Wiederaufnahme von Produktion und Geschäftsleben. Ist es nicht pervers, wenn Aktienkurse wichtiger sind als Menschenleben?
Ich meine, die Wirtschaft hat insgesamt viel Verständnis für die jetzige Situation aufgebracht, die sehr vielen Unternehmen verbietet, ihre Geschäfte zu führen - was einen der tiefsten Eingriffe in den gesellschaftlichen Organismus bedeutet, den man sich vorstellen kann. Die großen Unternehmen werden gewiss über die Runden kommen. Die vielen kleinen, der Frisör an der Ecke, die kleine Buchhandlung, das Reisebüro, die Geschenkeläden, sind hingegen existenziell bedroht. Da geht es nicht um Profitmaximierung, sondern ums nackte Überleben. Und deshalb bedürfen sie schneller, unbürokratischer Hilfe. Es ist noch einiges zu tun, damit diese auch zügig erfolgt.

Ab dem 20. April wird man dann schauen müssen, ob bestimmte Firmen, wenn sie denn Schutzvorkehrungen einhalten können und auch beachten, also Vorsorge für ihre Mitarbeiter und Kunden tragen, ihre Geschäfte vielleicht wieder aufnehmen können. Es dürfen in dieser Situation nicht Aktienkurse diktieren. Die Zahl der Arbeitslosen wird allerdings steigen, für sehr viele Familien wird es schwer. Nicht überall greift Kurzarbeitergeld. Es ist also im Interesse aller, der Gesellschaft, nicht nur einzelner Unternehmen, dass wir sobald wie möglich den Ausnahmezustand wieder verlassen können.

Was sagen Sie dazu, wenn Konzerne wie Adidas und Karstadt/Kaufhof vom staatlichen Hilfspaket profitieren wollen und gleichzeitig versuchen, erstmal keine Miete zu zahlen. Auch wenn dies in ihrem Fall keine armen, sondern schwergewichtige Immobilienbetreiber tangieren würde?
Das ist nicht nachvollziehbar, moralisch empörend, aber rechtlich schwierig. Ich will mich hier nicht ins Gewerbemietrecht begeben, das überlasse ich den Experten auf diesem Gebiet. Aber es gibt viele Vermieter, und ich kenne selbst einige, die dem Buchhändler oder Inhaber eines kleinen Textilgeschäfts in ihrem Haus jetzt versichern, von der Miete wenigstens für ein oder zwei Monate Abstand zu nehmen, sie zu erlassen, zu halbieren oder zu stunden. Solidarisches Verhalten: Einer ist für den anderen da. Solches Ethos hätte ich mir auch von Adidas gewünscht.

Was halten Sie von einem Pandemie-Gesetz?
Es kommt darauf an, was drin steht. Wenn es vom Geist der derzeitigen Ad-hoc-Maßnahmen geprägt sein sollte, wäre ich entschieden dagegen. Weil damit ein Ausnahmezustand zu einer Selbstverständlichkeit zu werden droht. Auch eine Grippewelle könnte dann Anlass sein, von solch drastischen Eingriffsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, wie sie zurzeit bedingt nötig sind. Ich möchte auf keinen Fall, dass nach der Krise als vor der Krise angesehen wird.

Vermute ich recht, dass Sie gegen eine Handyortung von Coronapatienten sind?
Da sehe ich die Gefahr des »Big Brother«. Ich habe mich seinerzeit als Bundesjustizministerin energisch gegen den Großen Lauschangriff eingesetzt. Und weiche hier keinen Deut von meinen Überzeugungen ab. Aber es gibt Datenschutz schonende, freiwillige Konzepte ohne Bewegungsprofile, die kann man benutzen.

Darf ich Ihnen eine für Sie als Liberale unsittliche Frage stellen? Ist nicht angesichts der eklatanten Nöte im Gesundheitswesen dessen Verstaatlichung nötig?
Natürlich können Sie diese Frage stellen. Ich erachte sie auch nicht als unsittlich. Ich halte aber nichts davon, das gesamte Gesundheitswesen, alle Einrichtungen, Krankenhäuser, Reha-Kliniken, Arztpraxen und Labore zu verstaatlichen. Ich bin allerdings überzeugt, dass in der Gesundheitspolitik umgedacht und umgesteuert werden muss. Die Politik, die dazu geführt hat, dass die Anzahl von Kliniken und Klinikbetten um die Hälfte reduziert wurde, hat uns das Dilemma mit beschert, vor dem wir heute stehen: Messehallen werden umfunktioniert, um die wachsende Zahl von Coronapatienten behandeln zu können.

Wir waren nicht vorbereitet auf Notzeiten, obwohl es Notfallpläne auch für eventuelle Epidemien und Pandemien seit einigen Jahren gibt. Es wurde keine Vorratshaltung betrieben. Weil das ja Geld kostet. Daraus müssen wir Lehren ziehen, uns endlich einsichtig zeigen. Und das sage ich auch ausdrücklich als Liberale: Es sind notfalls politische Vorgaben zu machen, es bedarf dazu aber keines verstaatlichten Gesundheitswesens.

Wie beschäftigen Sie sich in diesen langen, einsamen Tagen - außer telefonisch Interviews zu geben?
(Lacht) Ich lese sehr viel, vor allem juristische Beiträge, die sich mit der Pandemie und Ausnahmesituationen befassen. Mir schwirrt abends oft der Kopf von den vielen Corona-Informationen. Da muss ich dann auch mal abschalten, eine Auszeit nehmen. Ich gehe gern am Starnberger See spazieren, genieße die Sonne. Und ich erledige Dinge, die ich schon immer machen wollte, habe alte Papiere ausgemistet, organisiere im Hause etwas um und mache mich mit meinem neuen Tablet vertraut. Ich nutze den Lieferservice, gehe aber auch bei unserem Bäcker und Metzger einkaufen, um sie zu unterstützen. Ansonsten genieße ich die Ruhe, fände es aber auch schön, wenn diese keine Ewigkeit währt.

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