Stockschläge und Quarantäne

Die strikte Ausgangssperre in den Slums von Mumbai lässt eine andere Angst wachsen: die vor dem Hunger

  • Natalie Mayroth
  • Lesedauer: 7 Min.

Zischend schießt weiße Flüssigkeit aus den Schläuchen. Feuerwehrleute versprühen das Desinfektionsmittel Natriumhypochlorit. Schritt für Schritt bewegen sie sich durch die engen Gassen des Slums. Insgesamt 800 solcher Wohnsiedlungen gibt es in der indischen Megacity Mumbai. In einigen wurden erste Coronafälle bekannt. »Mein Vormittag beginnt damit herauszufinden, wer sich in meinem Gebiet angesteckt hat«, sagt der leitende Beamte Kiran Dighavkar, der für die Region rund um den Slum Dharavi zuständig ist. Der 36-Jährige hat lange Tage hinter sich. Mit seinem Team versucht er, die Ausbreitung unter Kontrolle zu bringen. Eine fast unlösbare Aufgabe.

Dharavi ist Asiens größter Slum. Als hier der erste Coronafall gemeldet wurde, reagierten die Behörden alarmiert. Seit Ende März gelten nun schon strikte Maßnahmen in Indien, um die Ausbreitung der Infektionen zu begrenzen. Für 1,3 Milliarden Inder wurde eine Ausgangssperre verhängt. Zuvor waren Coronainfektionen nur bei Touristen aufgetreten. Und bei Besserverdienern, die sich Reisen ins Ausland leisten konnten.

Unter den ersten infizierten Slumbewohnern waren ein Taxifahrer, eine Haushaltshilfe und ein 56-jähriger Textilhändler aus Dharavi. Kurz nachdem die Infektion bei ihm nachgewiesen worden war, starb der Händler im Kasturba-Krankenhaus. Der Mann war mit Fieber und Atembeschwerden zum Arzt gegangen. Als Corona-Patient wurde er nicht sofort erkannt. Zu diesem Zeitpunkt gab es in Mumbai noch wenige Fälle, und er gehörte nicht zur Risikogruppe, da er keine Auslandsreise unternommen hatte. Der Mann hatte jedoch Pilger aufgenommen, von denen man annimmt, dass sie ihn angesteckt haben. Seine Besucher kamen von einem Treffen der muslimischen Glaubensbewegung Tablighi Jamaat aus Delhi und machten in Mumbai Station.

Dieses religiöse Treffen, das im vergangenen Monat mit zahlreichen Teilnehmern aus Südostasien stattfand, soll zur zusätzlichen Verbreitung des Coronavirus in Indien beigetragen haben. Inzwischen wurden in der westindischen Metropole über 2700 Infektionen nachgewiesen, in Dharavi über 130, darunter sind elf Verstorbene.

Die indische Regierung hat inzwischen ein Hilfspaket geschnürt, das 800 Millionen Menschen für die nächsten drei Monate mit Lebensmitteln wie Reis und Getreide sowie Direktüberweisungen unterstützen soll. Es erfasst jedoch vor allem Menschen, die bereits Sozialleistungen erhalten. Darunter sind nicht alle namenlosen Slumbewohner, die sich Tag für Tag selbst irgendwie selbst über die Runden bringen. Neben den städtischen Behörden springen landesweit private Initiativen und Nichtregierungsorganisationen (NGOs) ein, um Lebensmittel zu verteilen.

»Uns bleibt nur, symptomatische Patienten ausfindig zu machen und sie in staatliche Quarantäne zu verlegen«, sagt Dighavkar. Das verlangt eine akribische Suche. 74 Menschen, mit denen der inzwischen verstorbene Textilhändler Kontakt hatte, wurden ausfindig gemacht und unter Beobachtung gestellt. Doch letztlich können die Behörden mit dem Virus nicht Schritt halten.

In dem gut zwei Quadratkilometer großen Gebiet im Herzen Mumbais leben etwa 800 000 Menschen, vielleicht auch mehr. So genau weiß das niemand. Kaum ein anderer Ort der Welt ist so dicht besiedelt. In dem Labyrinth aus Wellblechhütten, Garküchen, Moscheen, Märkten, kleinen Tempeln und Kanälen ist es schwer, den Überblick zu behalten.

Herausforderungen gibt es auf verschiedenen Ebenen, sagt Dighavkar. Viertel mit erkannten Fällen werden abgeriegelt und von den Behörden mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgt, Risikokontakte müssen isoliert werden. Tausende wurden unter häusliche Quarantäne gestellt, zudem wurden eine Sportanlage und Schulen zu Ausweichquartieren umfunktioniert sowie ein Krankenhaus speziell für Coronaviruspatienten angemietet.

Allein das Desinfizieren ist Sisyphusarbeit. Täglich seien in seinem Gebiet 180 Gemeinschaftstoiletten zu reinigen, sagt Dighavkar. Die Zahl der Essenspakete, die die Familien für zwei Wochen mit dem Nötigsten versorgen, soll auf über 50 000 erhöht werden. Doch gerade anfangs gingen viele Menschen leer aus. Nichts zu essen zu haben, bereitet vielen daher mehr Sorge, als krank zu werden.

In der vergangenen Woche wurde der Lockdown bis zum 3. Mai verlängert. Das indische Außenministerium nennt die Maßnahmen einen Erfolg. Man habe in den Gefährdungsprognosen ohne Ausgangssperre mit bis zu 820 000 Fällen schon Mitte April gerechnet, offenbarte der indische Diplomat Vikas Swarup. Derzeit sind es knapp 17 600 registrierte Fälle von Infizierten, 540 Menschen starben mit oder an den Folgen von Covid-19.

Dass den Menschen nun allerdings bald die Lebensmittel ausgehen würden, ahnte Raphel Paul, der sonst in Dharavi eine Imbissstube betreibt. Seit über drei Wochen hat er kein Essen mehr verkauft. Jetzt gibt er Getreide, Linsen und Zucker umsonst aus. Bekannte helfen ihm bei der Verteilung. »Wenn wir nicht helfen, wer dann?«, fragt er. Ehrenamtlich leitet Paul die Nachbarschaftsinitiative Nagarik Seva Sangh. Am Morgen und Abend ist ihre Essensausgabe geöffnet. Der 48-Jährige hat begonnen, die Besucher zu mahnen, dass sie die Hygieneregeln beachten sollen. »Die Leute leben auf engem Raum und haben kaum Zugang zu sauberem Wasser. Die meisten benutzen die öffentlichen Toiletten, weil sie keine eigene haben.« Nicht selten teilen sich acht Menschen die kleinen Wohnungen. Deswegen ist die Möglichkeit der massenhaften Übertragung des Virus hier besonders hoch, weiß Paul.

»Ich befürchte, dass wir in den kommenden Tagen nichts mehr ausgeben können, da auch Supermärkte Probleme haben, Nachschub zu bekommen«, sagt Paul beim Videogespräch. Hinter ihm sind abgefüllte Säcke zu sehen. Seine Familie ist über sein Engagement wenig erfreut. Sie hat Angst, dass er sich anstecken könnte. Mumbai verzeichnet eine der höchsten Corona-Infektionsraten in Indien.

Durch die lebendige informelle Wirtschaft kommt Dharavi sonst auf einen geschätzten Jahresumsatz von knapp einer Milliarde Euro. Leder, Textilien und Töpferwaren werden hier gefertigt, Plastik recycelt. Doch so gut wie alle Wirtschaftsbereiche liegen derzeit flach, in Mumbai und überall in Indien. Seit dem Lockdown haben viele Menschen - gerade auch in Dharavi - ihre Jobs verloren.

Die Not wird jetzt noch sichtbarer. Doch sie ist keine Folge des Virus. Nicht einmal Ergebnis einer Entwicklung der vergangenen Jahre. Der Slum, um den herum Mumbai gewachsen ist, ist über 130 Jahre alt. Bereits unter der britischen Kolonialherrschaft erlebte das ehemalige Fischerdorf ein massives Wachstum. Fabriken und Arbeiter, die aus der Stadt an den Rand verdrängt wurden, siedelten sich an.

Schon damals zog es die Bevölkerung auf der Suche nach Arbeit auch vom Land in das relativ wohlhabende Mumbai. Wohnviertel und kleine Fabriken entstanden planlos, ohne Sanitäranlagen und sauberes Wasser. Es gebe daher immer schon viele Gesundheitsprobleme in Dharavi, sagt Dighavkar.

NGOs sind bemüht, trotz aller Widrigkeiten weiterzuarbeiten. Auch Dr. Vivek Pai, Leiter des Bombay Leprosy Project, hält den Notfalldienst notdürftig aufrecht. »Wir mussten unsere Aktivitäten zurückfahren«, sagt er. Patienten aus Dharavi würden weiter im städtischen Gesundheitszentrum behandelt. Aber es ist nicht immer nach Plan geöffnet. Beratung ist auf ein Minimum reduziert, wird zum Teil über WhatsApp oder E-Mail angeboten. Vorsichtsmaßnahmen werden empfohlen. Man halte die Sicherheit hoch, nutze Masken und Desinfektionsmittel im Gesundheitszentrum, erklärt Pai.

Die Studentin Neha erzählt am Telefon, dass für jeden größeren Wohnblock ein Krankenwagen bereitsteht. Sie wohnt in einem Umsiedlungslager in der Nähe des Slums. »Die Menschen in meinem Haus begannen die Lage erst ernst zu nehmen, als jemand gestorben war«, sagt die 20-Jährige. Danach schlossen die Geschäfte. Seitdem muss sie weiter laufen, um Vorräte zu besorgen. Wenn sie das Haus verlässt, sieht sie trotz des Verbots junge Männer auf der Straße. »Sie schreien Polizisten an, wenn die sie mit Stockschlägen von der Straße scheuchen«, sagt sie.

Denn es ist verboten, nach draußen zu gehen, außer für Lebensmitteleinkäufe oder die Versorgung mit Medikamenten. Seit Indien auf Minimalbetrieb heruntergefahren ist, fehlt vielen eine Beschäftigung und damit ihr tägliches Einkommen, um über die Runden zu kommen. Nur wenige Betriebe dürfen produzieren, der öffentliche Verkehr wurde komplett eingestellt.

Zu essen habe sie noch, sagt Neha. Doch sie ist um ihre Nachbarn besorgt. »Ich hoffe, sie bekommen ihre Ration rechtzeitig«, ohne Lebensmittelzuteilung wüssten sie nicht, wie sie überleben sollen. Mit der Sorge um den Hunger hat auch die Angst vor der Übertragung zugenommen. Ein Teufelskreis. Die Polizei ist dabei, Risikokontakte aufzuspüren. Aber es sei leicht, sich hier zu verstecken, sagt Neha. Und das ist es, was ihr Unbehagen bereitet.

Mitarbeit und Übersetzung: Mona Thakkar

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