• Kultur
  • Lenins 150. Geburtstag

Die Kraft des neuen Anlaufs

Vor 150 Jahren wurde Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, geboren

  • Wladislaw Hedeler
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Menschenschlange auf dem Roten Platz in Moskau, vom Alexandergarten bis zum Mausoleum, ist Geschichte. Wer heute zu Lenin will, muss nicht lange warten. Viele kommen dagegen, um einem anderen Sowjetführer die Ehre zu erweisen. Davon künden die Blumen vor Stalins Granitbüste an der Kremlmauer. Auch die Entfernung des im November 1967 im Kreml eingeweihten Lenindenkmals und die Aufstellung der Romanow-Stele im Alexandergarten spiegeln die neue Erinnerungskultur in Russland wider. Die Lenin-Skulptur wurde in den Moskauer Vorort Gorki verbannt, vor dem Gutshaus aufgestellt, in dem Lenin am 21. Januar 1924 starb.

Der Rote Platz im Herzen der russische Hauptstadt, einst für Proletarier und Intellektuelle aller Länder ein fast sakraler Ort, ist heute ein Vergnügungspark mit Karussells, Eisbuden und Pavillons. Durch die Zweige der aus einer Brandenburger Baumschule stammenden Blauen Stechfichten sind die über 100 Tafeln mit den Namen der an der Kremlmauer beigesetzten Revolutionäre diverser Nationalitäten, darunter auch die deutschen Kommunisten Clara Zetkin und Fritz Heckert sowie der legendäre US-amerikanische Reporter John Reed, kaum noch auszumachen.

In ihren »Erinnerungen an Lenin« zitierte Nadeschda Krupskaja den »Letzten Willen« ihres Mannes, im Familiengrab der Uljanows, seiner Familie, auf dem Petrograder Friedhof Wolkowskoe beigesetzt zu werden und alle Bestrebungen strikt zurückzuweisen, ihn heilig zu sprechen und damit in einen »harmlosen Götzen« zu verwandeln. In seinem Sinne hatte auch der Dichter Wladimir Majakowski Wallfahrten, Weihrauch und Mausoleen mit Nachdruck abgelehnt und stattdessen dazu aufgerufen, einen »erneuten Anlauf« zu wagen, um »des Genossen Lenin langes Leben aufzuzeichnen«.

Bekanntlich sperrte sich Stalin dem. Er pflichtete Maxim Gorki bei, der Lenin in einem Aufsatz zu dessen 50. Geburtstag mit einer sakrosankten Person verglich, die unermüdlich und rastlos gepredigt habe »von der Notwendigkeit, die soziale Ungleichheit der Menschen von Grund auf zu zerstören«: »Diese alte Wahrheit klingt aus seinem Munde schroff, unversöhnlich, immer fühlt man, dass er unerschütterlich an sie glaubt, und man fühlt, wie ruhig sein Glaube ist - der Glaube eines Fanatikers, keines Metaphysikers.« So der Schriftsteller.

Im feierlichen Eid an Lenins Bahre beschwor dessen selbst ernannter Nachfolger Stalin - vor dem im Amt des Generalsekretärs Lenin in seinem »Testament« explizit gewarnt hatte - mehrere Gebote, die es fortan in Ehren zu erfüllen gelte. Damit begann die stetige, quasi-religiöse Aufwertung eines Revolutionärs, Theoretikers und Politikers zu einem »Klassiker«, zum Begründer des »Leninismus«, der von Stalin als »Marxismus in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolutionen« definiert wurde. Demgemäß sah die 1919 von Lenin initiierte Kommunistische Internationale es als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an, dessen »Lehre« weltweit zu verbreiten.

In Erwartung der Weltrevolution hatte Lenin darauf verzichtet, einen eigenen, den russischen Verhältnissen entsprechenden Ansatz in Richtung Sozialismus zu entwickeln. Die große Hoffnung auf die Unterstützung der revolutionären Arbeitermassen im Westen erfüllte sich jedoch nicht. Eine Räterepublik nach der anderen, die im Gefolge des mörderischen Ersten Weltkrieges und des Sturzes bzw. der Abdankung alter gekrönter Häupter ausgerufen worden waren, wurden blutig niedergeschlagen. Ebenso wie der alsbald in Sowjetrussland aufflammende Protest der Bauern gegen Zwangsabgaben sowie die »Meuterei« der Kronstädter Matrosen gegen die Fortsetzung der Politik des »Kriegskommunismus«.

Lenin setzte daraufhin - gegen den Widerstand vieler Parteimitglieder - auf dem 10. Parteitag der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki) 1921 eine Kursänderung durch. An diese knüpfen heutige Autoren an, die zwischen dem von Lenin und dem von Stalin verkörperten »Leninismus« unterscheiden. Dass aus der Diktatur des Proletariats, wie Rosa Luxemburg gewarnt hatte, eine Diktatur der Partei oder - exakter - der Parteiführung wurde, thematisieren sie nicht.

Die »Neue Ökonomische Politik« (NÖP) war ein kurzlebiger Versuch, den Aufbau des Sozialismus in einem Land durch Gewährung von Konzessionen voranzubringen. Eine auf der Auswertung der Erfahrungen der NÖP basierende programmatische Schrift - vergleichbar mit der Studie »Imperialismus als jüngstes Stadium des Kapitalismus« (1916/17) oder »Staat und Revolution« (1917/18) - hat Lenin nicht hinterlassen. Auch hat der von einem Attentat gezeichnete und von den Revolutionswirren erschöpfte, knapp über 50-Jährige keine Änderung des 1919 auf dem 8. Parteitag beschlossenen, fatale Weichen stellenden Parteiprogramms vorgeschlagen.

Die hierzulande wieder in Gang gekommene und jüngst vom Philosophen Michael Brie belebte Diskussion über das Unausschlagbare wie auch das Unannehmbare in Lenins Werk zu befördern, ist das erklärte Ziel der Herausgeber der Kritischen Neuausgaben von Lenins bedeutendsten Abhandlungen. Linke Bolschewismuskritik beinhaltet die Anerkennung einer sich an Marx orientierenden linkssozialistischen und linkskommunistischen Bewegung jenseits der aus dem Prokrustesbett der Komintern entstiegenen bolschewisierten Parteien. Die Linke war und ist nie monolithisch, auch die russische nicht. Wer heute noch an Lenins Abwertung seiner linkssozialistischen und linkskommunistischen Kritiker festhält, sie als konterrevolutionäre Kräfte auf der anderen Seite der Barrikade verortet, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, alten Denkstrukturen verhaftet zu sein und die neuesten Dokumenteneditionen und darauf fußende Forschungsergebnisse zum linken Parteienspektrum zu ignorieren.

Den Studienausgaben von Lenins Imperialismusanalyse und seinem Werk »Staat und Revolution« sind Essays vorangestellt, in denen der jeweils konkrete Zeitbezug sowie deren epochenübergreifende Bedeutung diskutiert werden. Der Rechtsphilosoph Hermann Klenner weist Lenin einen wichtigen Platz in der marxistischen Tradition zu und hebt zugleich als dessen Alleinstellungsmerkmal hervor, dass es sich bei der letztgenannten Schrift nicht nur um das Werk eines Theoretikers handelt, sondern dass wir hier zugleich die Konzeption eines unmittelbaren Revolutionsproduzenten vorliegen haben. Wolfgang Küttler würdigt Lenin als Strategen und erörtert »Staat oder Revolution« mit dem Blick auf heutige Gegebenheiten. Wie es mit Macht, Herrschaft und Ordnung in einer noch und wieder vom Kapitalismus beherrschten Welt weitergehen soll, ist die spannende Frage, der sich Dietmar Dath und Christoph Türcke annehmen.

Kurzum: 150 Jahre nach der Geburt von Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, am 22. April 1870 in Simbirsk, sind die richtigen Fragen gestellt, die Herausforderungen formuliert. Nun gilt es, den neuen Anlauf auch zu wagen.

Lenin: Staat und Revolution. Kritische Neuausgabe. Hg. v. Wladislaw Hedeler und Volker Külow. Verlag 8. Mai, 460 S., geb., 24,90 €; Lenin: Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus: Kritische Neuausgabe. Hg. v. Wladislaw Hedeler und Volker Külow. Verlag 8. Mai, 357 S., geb., 24,90 €.

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.