Die Wehrmacht war’s auch

Hannes Heer fordert, den Völkermord an den slawischen Menschen in der NS-Zeit endlich aufzuarbeiten

  • Guido Speckmann
  • Lesedauer: 6 Min.

In der Berliner Republik hat die politische Elite damit begonnen, insbesondere an den Holocaust zu erinnern. Statt Schweigen gibt es nun ein Erinnerungsgebot. Sollten Antifaschisten und Linke froh sein, dass der Holocaust inzwischen im Zentrum der Erinnerung steht?

Es ist großartig, dass es ein staatliches Gedenken an den Holocaust gibt - und die Holocaust-Gedenkstätte in Berlin. Aber meine Freude ist nur eine halbe. Denn ein anderer Völkermord, vorbereitet und durchgeführt aus ebenfalls rassistischen Gründen, fehlt in der Erinnerung und hat noch immer keinen Ort.

Hannes Heer

Hannes Heer, Jahrgang 1941, ist Historiker, Publizist und Ausstellungsmacher. Von 1993 bis 2000 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und Leiter des Ausstellungsprojekts »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944«. Guido Speckmann sprach mit ihm über die vergessenen Verbrechen an den slawischen Menschen, die Verantwortung der Wehrmachtssoldaten und die Notwendigkeit eines neuen Geschichtsbildes.

Welchen Völkermord meinen Sie?

Den an den slawischen Völkern. Hitler hat ja früh darauf hingewiesen, dass es eine Konstante seiner Politik sein werde, den »ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas« zu stoppen und »den Blick nach dem Land im Osten«, nach Russland, zu richten. In »Mein Kampf« gibt es schon einen groben Fahrplan für diesen großdeutschen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzug, der - mit Ausnahme der gescheiterten Besetzung beziehungsweise Einbindung Englands - später minutiös realisiert wurde.

Wie viele slawische Menschen wurden während des Zweiten Weltkriegs von Deutschen getötet?

Das waren in der Sowjetunion rund 30 Millionen Menschen, 6 Millionen in Polen und 2 Millionen in Jugoslawien. Hinzu kommen noch fast eine halbe Million Tschechoslowaken. Rechnet man eine halbe Million Sinti und Roma hinzu, sind das insgesamt an die 40 Millionen ermordete Menschen. Hier wird deutlich, welche Asymmetrie zwischen der Erinnerung an den Holocaust und dem Großverbrechen an den sogenannten »slawischen Untermenschen« besteht.

Warum wird der Ermordung der slawischen Menschen so wenig gedacht?

Das wird verständlich, wenn man fragt, welche Tätergruppen an den beiden Großverbrechen beteiligt waren: Für den Holocaust mit 6 Millionen Opfern war eine Kerntruppe von 250 000 Angehörigen der SS und der Polizei verantwortlich, unterstützt von rund 150 000 Kollaborateuren aus den besetzten Ländern. Diese Einheiten waren auch für die Ermordung von 3 Millionen polnischen und 2,5 Millionen sowjetischen Juden zuständig. Die Eroberung und Besetzung Europas dagegen war das Werk der Wehrmacht mit ihren 19 Millionen Soldaten. 10 Millionen davon waren an der sogenannten Ostfront eingesetzt. Sie trugen die Verantwortung für 7 Millionen im Kampf gefallene und 3,5 Millionen gefangene Rotarmisten wie für das Schicksal von 15 Millionen ums Leben gekommene sowjetische Zivilisten. Fast jeder von diesen 10 Millionen Wehrmachtsangehörigen wurde zum Mörder. Wer es nicht wurde, war in jedem Fall ein Teil der Mordmaschine gewesen und hatte zu deren Funktionieren beigetragen.

Umso erstaunlicher, dass darüber hinterher kaum gesprochen wurde. Oder umso naheliegender?

Fast jeder deutsche Familienverband hatte mindestens zwei oder drei Angehörige, die an dieser Front eingesetzt waren und in ihren Feldpostbriefen angedeutet oder im Urlaub erzählt hatten, was dort geschehen war und geschah. Das macht den Unterschied in der Erinnerungskultur aus: 250 000 SS-Männer als Holocaust-Täter, das betraf meistens nicht die eigene Familie und passte zu der üblichen Ausrede »Hitler war’s«. Aber Millionen Täter aus der Wehrmacht und aus der Verwandtschaft - als Wehrfähige eingezogen und in den privaten Fotoalben verewigt - diese Tatsache negierte die westdeutsche Gesellschaft bis in die 90er Jahre. Und das will auch eine Mehrheit im wiedervereinigten Deutschland noch immer nicht akzeptieren.

Spielte nicht auch die Kontinuität des Antikommunismus eine Rolle, die ständig behauptete »Gefahr aus dem Osten«?

Der Antikommunismus in Kombination mit dem Antisemitismus war die Achse der Nazi-Propaganda: Die Sowjetunion galt als die Verkörperung des »jüdischen Bolschewismus«. Während die Tatsache des Holocaust nach 1945 nicht mehr geleugnet werden konnte, wurde der Antikommunismus zur obsessiven Grundlage der bundesdeutschen Politik: Man sprach offen darüber, dass Hitler Weitsicht bewiesen habe, als er die Sowjetunion 1941 völkerrechtswidrig überfiel. Und man hielt es für selbstverständlich, dass die Westalliierten zur Belohnung für diese Tat die BRD zum wichtigsten Verbündeten im Kalten Krieg machten.

Aber um die Jahrtausendwende rückte dann die von Ihnen mit erarbeitete »Wehrmachtsausstellung« ins öffentliche Bewusstsein, dass die Wehrmacht nicht »sauber geblieben«, sondern an der Ermordung von Millionen Menschen beteiligt war.

Ja, diesen millionenfachen Mord hat die Ausstellung unübersehbar und bis in jede Familie hinein vermitteln können. Insofern war sie eine ebenso historiografische wie politische Großunternehmung. Sie wurde allerdings abgebrochen, als rechtskonservative Institutionen kritisierten, dass 90 Prozent der Fotos mit Verbrechen der Wehrmacht nichts zu tun hätten und dass bei zehn Fotos nicht Opfer der Wehrmacht, sondern solche des sowjetischen Geheimdienstes NKWD gezeigt würden. Daraufhin wurde die Ausstellung ohne jede Überprüfung der Vorwürfe von ihrem Initiator und Financier zurückgezogen, dem Gründer des Hamburger Instituts für Sozialforschung, Jan Philipp Reemtsma.

Als wie stichhaltig erwiesen sich diese Anschuldigungen?

Die erste Ausstellung wurde durch eine internationale Historikerkommission rehabilitiert. Trotzdem präsentierte Reemtsma 2001 in Berlin eine völlig neue Ausstellung, in der die von Wehrmachtssoldaten an realen Tatorten selbst geknipsten Fotos nicht mehr vorkamen. Es ging jetzt nicht mehr um Millionen Täter, sondern um die Schuld von 3000 Generälen.

Zahllose Täter oder die Schuld von wenigen Befehlshabern - welches Bild herrscht in der Wissenschaft vor? Und welches etwa in gegenwärtigen Historienfilmen, die ja das öffentliche Geschichtsbild maßgeblich mitprägen?

Der Großteil der seriösen Historiker hat die Thesen und Nachweise der ersten Ausstellung über die Verbrechen der Wehrmacht mittlerweile übernommen und produktiv weitergeführt. In der breiten Öffentlichkeit hingegen sieht das ganz anders aus. In dem Film »Der Untergang« von Bernd Eichinger erscheinen die Generäle, weil sie Hitler den Ausbruch aus dem von sowjetischen Truppen eingeschlossenen Berlin nach Westen vorschlagen, als dem Realitätsprinzip folgende und daher sympathische Figuren. Diese Schieflage hat Eichinger bewusst herbeigeführt, indem er die verbrecherischen Kriegsbiografien seiner Generäle einfach ausgelöscht hat.

In Nico Hofmanns »Unsere Mütter, unsere Väter«, einem hoch gelobten Fernseh-Dreiteiler, kommt der Nationalsozialismus der Jahre 1933 bis 1940 gar nicht erst vor. Hofmanns arische Protagonisten haben die HJ oder den BdM nie erlebt, obwohl die Mitgliedschaft ab 1933 verpflichtend war. Und der jüdische Freund darf 1941 noch mit einem Fahrrad unterwegs sein, um sich mit ihnen zu treffen. Die fünf sind alle aus der Zeit gefallene Kunstfiguren, die naiv in den Krieg (oder in die für Juden vorgesehene Vernichtung) taumeln und dort auf ebenso uninformierte Offiziere treffen, die vom Kommissarbefehl genauso wenig gehört haben wie vom Auftrag der SS-Einsatzgruppen, alle russischen Juden mit Karabinern und Maschinenpistolen zu vernichten. »So wären die Deutschen gerne gewesen«, hat der Historiker Ulrich Herbert sarkastisch angemerkt.

Was bräuchte es, um dieses Bild in der Öffentlichkeit zu korrigieren?

Wir brauchen ein Projekt, das dem Versuch der Vernichtung der »slawischen Untermenschen« gilt und als Fernziel eine Dauerausstellung in einer eigenen, nur diesem Thema gewidmeten, Gedenkstätte anvisiert. Ich plädiere also für nichts weniger als für eine neue, dritte Wehrmachtsausstellung.

Das heißt, Sie sind ähnlich wie die Initiative »Gedenkort für die Opfer der NS-Lebensraumpolitik« für eine Gedenkstätte, die der polnischen und sowjetischen Opfer des Vernichtungskrieges gedenkt?

Absolut. Nur scheint mir dieses Projekt aus Angst vor dem Streit zwischen den unterschiedlichen nationalen Opfergruppen der Polen, Russen, Ukrainer, Ex-Jugoslawen zu klein gedacht und organisatorisch noch zwergenhafter angegangen worden zu sein.

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