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Das Gerede von der chinesischen Seuche
Wie die Corona-Pandemie die Systemfrage sichtbar macht
Es war in der Botschaft Japans in Berlin zu Beginn des Jahres. Die ersten besorgniserregenden Nachrichten aus der Volksrepublik China hatten Europa erreicht. Für manchen deutschen Politiker, der der Einladung des Botschafters gefolgt war, schien das aber alles noch sehr weit weg.
Plötzlich fiel im Beitrag des deutschen Gastredners Volker Kauder, der 13 Jahre lang im Bundestag die Fraktion der konservativen Regierungsparteien CDU/CSU geführt hatte, das Wort von der »chinesischen Seuche«. Der Begriff erschreckte mich. »Seuche« war aus dem deutschen Wortschatz schon lange verschwunden, man benutzte dafür den neutralen Begriff »Infektion«. Seuche erinnerte zu sehr an Pest und Cholera, an das finstere Mittelalter und an mangelnde Hygiene. Die Verknüpfung des alten Begriffs »Seuche« mit der Volksrepublik China war eindeutig abfällig und antikommunistisch.
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Ich fragte die Dame in meiner Nähe, die regelmäßig das »Heute Journal« des ZDF moderiert: »Hat Kauder wirklich ›chinesische Seuche‹ gesagt?«
Sie nickte und musterte mich aufmerksam, denn sie hatte den kritischen Unterton in meiner Frage durchaus wahrgenommen. Kauder habe das gewiss nicht diffamierend gemeint, beeilte sie sich zu versichern. Sie verteidigte ihn, obwohl es da nichts zu verteidigen gab: Kauder lehnte Peking und dessen Politik ab. (Wenig später sollte auch sie die Wendung »chinesische Seuche« im Fernsehen benutzen. So funktioniert sichtbar die »Meinungsbildung«.)
Der erfahrene CDU-Politiker hatte mit seiner Rede die zwiespältige Politik der Bundesregierung deutlich werden lassen. Auf der einen Seite braucht die Bundesrepublik die Volksrepublik als Markt und Partner für deutsche Unternehmen. Die tiefen ideologischen Vorbehalte gegenüber China existieren trotzdem weiter. Der Antikommunismus war (und ist) nun einmal wesentliches Element des deutschen Konservatismus. In dieser Haltung folgt die BRD bedingungslos den USA. Selbst wenn man mitunter Trumps Attacken auf China kritisch beurteilte, verurteilte man sie nicht. Die Vereinigten Staaten bestimmten, was gut und richtig, was falsch und schlecht in der Welt war.
Darum überraschte es nicht, dass die strengen Maßnahmen, die zuerst in Wuhan und dann in ganz China ergriffen wurden, in Deutschland zunächst scharf kritisiert wurden. Dort zeige sich der kommunistische Staat von seiner repressiven Seite, berichteten die deutschen Medien unisono. Die Menschen dürften nicht einmal die Häuser verlassen, überall werde kontrolliert, es herrsche totale Überwachung. Die Menschenrechte würden mit Füßen getreten.
Als jedoch das Virus die Ländergrenzen übersprang und die Politik in Europa und im Rest der Welt vor den gleichen Herausforderungen stand wie die chinesische Führung, ließ für einen Moment die Kritik an der Volksrepublik China merklich nach. Denn man sah sich gezwungen, mit ähnlicher Konsequenz zu handeln.
Das gesamte öffentliche Leben brach in Europa zusammen. Viele Menschen verloren - auch in Deutschland - ihre Existenzgrundlage, kleine und mittlere Unternehmen gerieten ins wirtschaftliche Aus. Die Bundesregierung stellte Milliardenbeträge bereit, um den Kollaps zu verhindern. Doch die Soforthilfen, Zuschüsse und Kredite sichern nur für kurze Zeit das Dasein: Was, wenn diese Pandemie und die zu ihrer Bekämpfung ergriffenen Maßnahmen länger dauerten als vermutet und Hunderttausende Unternehmen zugrunde gingen?
Auch das Gesundheitswesen stieß an seine Grenzen. In Jahrzehnten waren die Krankenhäuser wie Wirtschaftsunternehmen geführt worden. Alles, was scheinbar unnötig und überflüssig war, wurde eingespart. Die Kranken hießen nicht mehr Patienten, sondern waren Kunden - sie nahmen eine Dienstleistung in Anspruch. Und dabei wurde unterschieden zwischen denen, die privat versichert waren, und jenen, die eine staatliche Pflichtversicherung besaßen. Man sprach von einer Zwei-Klassen-Medizin, weil die Privatversicherten besser und schneller behandelt wurden als die sogenannten Kassenpatienten. Als sich mit der Pandemie die Zahl der Erkrankten dramatisch erhöhte, wurde offenbar, was man in der Vergangenheit im Interesse des Profits eingespart hatte. Es fehlte an Häusern, Betten, Personal, Technik und Medikamenten.
Und gleichzeitig stellte man erstaunt fest, dass man in China innerhalb von Wochen neue Krankenhäuser errichtete, Millionen Mundschutzmasken produzierte (und damit auch noch die Welt beliefern konnte) und auch sonst mit medizinischem Rat und solidarischer Tat anderen Staaten zur Seite stand. Die Weltgesundheitsorganisation würdigte die Leistungen der Volksrepublik als vorbildlich - während in vermeintlich reichen kapitalistischen Industriestaaten allenthalben Mangel und Notstand im Gesundheitsbereich vorherrschten. Dort überstiegen alsbald die Zahlen der Infizierten und Toten diejenigen in China.
Nun unterscheidet ein Virus nicht nach Pass und Auskommen, es steckt unterschiedslos jeden an, den es erreicht. Der Unterschied besteht darin, wie die Gesellschaft mit einer solchen Herausforderung umgeht.
Auf einmal stellte sich die Systemfrage wieder. Sie war nie weg. Sie wurde nur nicht mehr gestellt, seit der Sozialismus sowjetischer Prägung in Europa untergegangen war. Und in die propagandistische Ablehnung und Auseinandersetzung wurde der Sozialismus chinesischer Prägung im Westen gleich mit einbezogen. Damit erledigte man aktiv auch jedes Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen.
Mit der Pandemie drängten aber plötzlich wieder Fragen in den Vordergrund, die man seit langem nicht mehr öffentlich zu stellen wagte: Welches gesellschaftliche System ist das humanere? Wo ist der Mensch der Maßstab aller Anstrengungen? Was ist die sozialere Gesellschaft - der Kapitalismus, dessen treibende Kraft einzig die Profitmaximierung ist? Oder ist es vielleicht doch der Sozialismus, den Fidel Castro einmal eine »artgerechte Gesellschaft« nannte? Wo sich Produktion an den tatsächlichen Bedürfnissen der Menschen orientiert und nicht an den Bedürfnissen, die man ihnen einredet, um mit deren Befriedigung zu verdienen. Und wo der produzierte Mehrwert, der Gewinn, nicht in den Taschen weniger Aktionäre verschwindet, sondern an alle in gleicher Weise verteilt wird. Und welcher politischen Führung kann man mehr vertrauen - jener, die sich für die Belange der gesamten Gesellschaft verantwortlich fühlt und im Interesse aller handelt? Oder jener, die zu ihrem eigenen Vorteil und im Interesse einer kleinen Minderheit entscheidet? Einer Minderheit, die über den größten Teil des nationalen und globalen Reichtums verfügt.
Die Systemfrage taucht in den hiesigen Medien in der verklausulierten Feststellung auf, dass das Leben nach der Pandemie gewiss »anders« sein werde. »Anders« sein müsse, denn das kapitalistische System habe in dieser Krise nicht nur seine asozialen Grenzen gezeigt, sondern auch die Sinnfrage menschlichen Lebens gestellt: Der Mensch existiert nicht, um zu produzieren und zu konsumieren, sondern um in Einklang und Harmonie mit sich selbst, mit den Nachbarn und mit der Natur zu leben. Solidarität ist wichtiger als der Egoismus, Gemeinsinn nötiger denn Eigensinn. Allein das halte eine Gesellschaft zusammen.
Diese Einsicht ist nicht neu. Sie wurde von vielen klugen Köpfen formuliert: Von Franz von Assisi bis zum aktuellen Papst Franziskus, der sich bewusst diesen Namen wählte, weil er dessen an Bescheidenheit orientierten Lebensentwurf für politisch aktuell hielt. Von Jesus bis Mahatma Gandhi, von Huang Di bis zum Urwaldarzt Albert Schweitzer, von Laotses »Dao de Jing« bis zur Bibel, von Buddha bis Marx, von Konfuzius bis Xi Jinping.
Ich habe mir in diesem Zusammenhang noch einmal Xis Rede angeschaut, die er auf der Nationalen Konferenz für Hygiene und Gesundheit im August 2016 hielt - lange vor der aktuellen Pandemie. Xi hatte dort auf den dialektischen Zusammenhang von Gesundheitsschutz und gesundheitsfördernden Umweltbedingungen verwiesen. Darunter war nicht nur die unmittelbare Schonung der Natur und deren Schutz zu verstehen, sondern auch die Sorge um die Natur des Menschen. Die kapitalistische Produktionsweise hetzt letztlich den Menschen zu Tode, verbraucht rücksichtslos alle Ressourcen, von denen der Mensch in dieser Lesart nur eine ist.
»Eine gute Umwelt ist die Grundlage für die Existenz und die Gesundheit der Menschheit«, erklärte Xi, wobei eben unter »Umwelt« mehr zu verstehen ist als nur die unmittelbare Umgebung und die Natur. Zugleich machte Xi auch die Verantwortung deutlich: »Der Aufbau eines gesunden China ist ein ernsthaftes Versprechen der Partei gegenüber der Bevölkerung«, erklärte der Staats- und Parteichef. Und diesem humanitären Auftrag wolle sich China als »verantwortungsvolle Großmacht« auch auf internationaler Ebene stellen. Die Volksrepublik sei bereit, sich auch »bei Auslandseinsätzen in Notfällen« zu engagieren und »die Kooperation in Hygiene- und Gesundheitsangelegenheiten mit den Ländern entlang den Routen der neuen Seidenstraße zu intensivieren«.
Als langjähriger Politiker und Vorsitzender des Ältestenrates der deutschen Linkspartei frage ich mich, ob meine Partei diesen Problemen die angemessene Aufmerksamkeit schenkt. Die Antwort lautet: Nein - sowohl im Allgemeinen wie auch im Konkreten. Das praktisch-politische Handeln und das theoretische Denken hat nicht das Niveau, das den aktuellen Herausforderungen - im nationalen und im globalen Rahmen - angemessen wäre.
Was für die deutsche Partei Die Linke gilt, trifft im Wesentlichen auch auf die Europäische Linke zu. Der Untergang des Realsozialismus und der Zerfall der Sowjetunion sorgten nicht nur für Irritationen, sondern auch für einen Niedergang marxistischen Denkens, was bis heute nachwirkt. Das wiederum führte auch zu einer Veränderung in der Haltung gegenüber dem raubtierhaften Kapitalismus. Mut, Entschlossenheit und Solidarität konsequenter solidarischer Kräfte in Europa, aber auch in Lateinamerika wurden erkennbar geschwächt. Von einer Weiterentwicklung des marxistischen Denkens kann nicht die Rede sein.
Die deutsche Linke muss jedoch nicht nur die sozialen Kämpfe in der Gesellschaft und bei der Globalisierung, nicht nur die Gestaltung der Demokratie und die politische Führung analysieren und kritisieren, sondern sie hat auch taktische und strategische Alternativen anzubieten. Dazu müssen sowohl vergangene als auch gegenwärtige Erfahrungen in die Überlegungen einbezogen werden. Auch jene, die die chinesischen Genossen aktuell machen. Der Ältestenrat der Linken wird Einfluss darauf nehmen, dass marxistisches Denken wieder stärker in den Vordergrund tritt. Das ist dringend nötig.
Bald werden die chinesischen Kommunisten den 100. Jahrestag der Gründung ihrer Partei begehen. Hunderte Millionen Menschen sind durch sie aus der Armut befreit worden, und die Partei will diesen Weg fortsetzen. Die Armut soll für immer überwunden werden. Diese Aufgabe und die Resultate nötigen nicht nur Hochachtung ab. Sie sollten die europäischen Linken auch ermutigen, sich frei zu machen von Momenten der Anpassung an das kapitalistische System und als Ziel eine sozialistische Welt formulieren. Das schließt Anerkennung und Achtung auch der chinesischen Anstrengungen für eine harmonische Welt ein.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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