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  • Politik
  • Geschlossene Grenzen wegen Corona

Vor verschlossener Tür

Viele Menschen im sächsisch-tschechisch-polnischen Dreiländereck leiden unter den unpassierbaren Grenzen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 8 Min.

Tauben kennen keine Grenze. Kaum sind die Schwärme dies- und jenseits der Neiße in die Luft gestiegen, vereinen sie sich und drehen Schleifen über jener Stelle im Fluss, an der drei Länder aneinander stoßen: Tschechien, Polen, Deutschland. Als die Vögel schließlich am Frühlingshimmel verschwinden, ist Thomas Zenker fast gerührt. Drei Schleifen, sagt der Zittauer Oberbürgermeister, seien auch das Signet eines Städteverbundes, der die ostsächsische Kleinstadt mit Hrádek nad Nisou in Tschechien und Bogatynia in Polen vereint: »Was für ein schönes Symbol!«

Der Taubenflug war Teil einer Gedenkstunde, mit der Hrádek, Bogatynia und Zittau des 75. Jahrestags der Befreiung gedachten. Sie feierten gemeinsam wie bei vielen Anlässen, zum Beispiel den Jahrestagen des EU-Beitritts von Polen und Tschechien am 1. Mai 2004. Und doch war diesmal alles anders. Es gab keine Pontonbrücken, die drei Festwiesen verbunden hätten; kein Kinderfest in Polen, keine Bühne auf tschechischer Seite, keine Darbietungen von Feuerwehr und Technischem Hilfswerk am Zittauer Ufer. Schon, dass Zenker und sein Kollege Josef Horinka aus Hrádek mit hochgerollten Hosenbeinen ins Wasser wateten und sich die Hände reichten, war gewagt. Denn mitten in der Neiße verläuft die Grenze, und die ist wieder geschlossen. In Polen wird sie sogar wieder von Soldaten mit Maschinenpistolen bewacht.

Als Tschechien im März ein Ein- und Ausreiseverbot verhängte und Polen kurz darauf nachzog, wurde das mit der Corona-Pandemie begründet. Zenker hält es für unausweichlich, die Verbreitung des Virus einzudämmen; entsprechenden Maßnahmen »ordne ich mich unter«, sagt er. Zudem könne er nachvollziehen, dass Behörden in Krisenzeiten bestrebt seien, »kontrollierbare Einheiten« zu schaffen, etwa durch Grenzschließungen. Dennoch hatte mit einem so drastischen Schritt im Dreiländereck kaum jemand gerechnet. Und dass er vollzogen wurde, führe zu einem »Begleitschmerz, mit dem ich nicht gerechnet hatte«, sagt der Bürgermeister.

Zenker, Jahrgang 1975, muss länger nachdenken, um sich an geschlossene Grenzen in Zittau zu erinnern. Im Sommer 1989 hätten Soldaten an Schlagbäumen im Zittauer Gebirge gestanden; damals reagierte die DDR auf die Ausreisewelle über Ungarn. In den 1990er Jahren patrouillierte der Bundesgrenzschutz mit Nachtsichtgeräten und Hunden, um die Einreise von Flüchtlingen aus Ex-Jugoslawien zu verhindern: »Das war das letzte Mal, dass wir hier die Grenze spürten.« Bis zum Beitritt der Nachbarländer zum Schengen-Raum 2007 kam es noch vor, dass Grenzkontrollen zu Rückstau bis in die Zittauer Innenstadt führten.

Seither aber ist die Grenze kaum mehr wahrnehmbar. Zittauer fahren zum Eishockey oder in die Oper nach Liberec. Die 100 000 Einwohner zählende Stadt ist nur eine halbe Stunde entfernt; die Fahrt nach Dresden dauert dreimal so lange. Tschechen wiederum strömen in Supermärkte auf sächsischer Seite. Tausende Pendler aus beiden Nachbarländern arbeiten in Ostsachsen. Und Wanderer in der Region interessiert der Grenzverlauf nur, wenn zu klären ist, ob man tschechisches oder deutsches Bier trinkt. Zwar sei die Grenze nicht obsolet, sagt Zenker. Der seit Jahren scheiternde Versuch, am Dreiländereck eine feste Brücke zu bauen, zeige das: »Es gibt dreimal Wasser- und Baurecht und jeweils andere administrative Zuständigkeiten«, sagt der Rathauschef. Generell aber sei die Region »so verwoben und vernetzt, wie wir uns das nie hätten träumen lassen«.

Um so größer ist nun der Trennungsschmerz - bei Bürgermeistern, aber auch bei Menschen wie Ola Staszel. Sie ist seit 2014 Programmchefin des »Neiße Filmfestivals« (NFF). Es entstand 2004 in Großhennersdorf, einem Dorf unweit von Zittau, wo in der DDR eine Umweltbibliothek gegründet wurde und später das »Kunstbauerkino«. Die Idee zum Festival hatte eine »kleine Gruppe Verrückter«, wie Staszel formuliert. Sie einte der Wille, »die Grenze einfach zu ignorieren«. Zuletzt liefen Filme an 20 Spielstätten in allen drei Ländern. Eine »große logistische Herausforderung« nennt Staszel das - die von den Fans aber gern angenommen wird.

Diesmal aber hilft alle Mühe nicht. Die Grenzen sind zu; ein Dreiländer-Festival ist unmöglich. Die 17. Auflage, die diese Woche gestartet wäre, ist abgesagt. Zwar laufen ein paar Filme in einem Autokino in Zittau. Zuschauer aus Polen und Tschechien aber können nicht anreisen. Unklar ist auch, ob sie zum verkleinerten Festival kommen können, das für Herbst geplant wird. Die Situation sei »lähmend und sehr emotional«, sagt Staszel: »Man fühlt sich ausgeschlossen.«

Staszel kennt das Gefühl. Sie lebte bis 1994 in Polen. Nachdem dort Anfang der 1980er die Solidarnosc-Bewegung aufkam, seien Reisemöglichkeiten stark beschränkt worden - als »eine Art Bestrafung«, sagt sie. Den politischen Umbruch 1989 habe sie daher als »Ausbruch von Freude« erlebt. Als 2007 auch die Grenzkontrollen wegfielen, habe sie gewusst: »Wir gehören dazu.« Das Festival sei ein Ausdruck dieser Stimmung; es erlaube auf seine Weise, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Nachbarn zu erleben, die Staszel als sehr bereichernd empfindet: »Davon lebt Kultur.«

Es ist freilich eine Sicht, die nicht von allen geteilt wird. Ola Staszel ist überzeugt, dass die Schließung der Grenze nicht nur eine Maßnahme zur Bekämpfung der Pandemie ist, sondern auch als »Statement« der polnischen Regierung gemeint war: ein Bekenntnis zu nationalem Handeln; ein Machtsignal der Zentralregierung an die Peripherie; Ignoranz oder Geringschätzung gegenüber dem, was in den Grenzregionen gewachsen ist. Auch in Polen werde über Lockerungen debattiert, sagt Staszel; die Öffnung der Grenzen rangiere dabei aber sehr weit hinten. Das berge praktische Probleme für alle, die grenzüberschreitend arbeiten; doch es ist mehr. »Rückläufige Entwicklungen«, sagt Staszel, »sind für Menschen nur sehr schwer zu verkraften.«

Auch Dorotty Szalma ringt schwer mit dem Umstand, dass die Grenzen in Europa und um Zittau wieder geschlossen sind. Die gebürtige Ungarin ist seit sieben Jahren Schauspielintendantin am Gerhart-Hauptmann-Theater in Görlitz und Zittau. Zuvor hatte sie in Wien und anderen europäischen Metropolen gearbeitet. Jedes Land, in dem sie gelebt habe, »hat mir etwas geschenkt«, sagt Szalma. Das Engagement in Zittau erlaubt es ihr faktisch sogar, gleichzeitig in drei Ländern zu leben. Die Nähe zu Polen und Tschechien sei denn auch »einer der Hauptgründe dafür gewesen, dass ich hierher gekommen bin«, sagt sie und fügt an, Kunst gedeihe nicht im alltäglichen Einerlei, sondern lebe von einer Vielfalt an Einflüssen: »Je weiter gefächert sie sind, um so Fantasievolleres kann man schaffen.« Im Dreiländereck gab es viel Futter für die Fantasie - bis Ende März.

Auch Szalma hätte dieser Tage zusammen mit Kollegen ein grenzübergreifendes Festival ausgerichtet. Unter dem Namen J-O-Ś kooperiert ihr Haus seit 2011 mit den Theatern in Liberec und im gut 90 Kilometer entfernten polnischen Jelenia Gora. Das Kürzel ist von den Hausbergen Ještěd, Oybin und Śnezka (Schneekoppe) abgeleitet. Das Festival, das jeweils Ende Mai stattfindet und zu dem auch Inszenierungen anderer Theater eingeladen werden, will Eindrücke vermitteln, welche Themen in den drei Ländern auf die Bühnen gebracht werden. Die Auflage für 2020 ist nun auf Anfang nächsten Jahres verschoben. Auch Szalmas Inszenierung von Mozarts »Don Giovanni« am Theater Liberec erlebte im März nur die Premiere, bevor der Spielbetrieb wegen Corona eingestellt wurde. Auch wenn er wieder aufgenommen würde, können nach aktuellem Stand Zittauer Theaterfreunde nicht zu den Vorstellungen fahren: »Es ist absurd.«

Dorotty Szalma ist 1974 in Budapest geboren; sie kennt abgeriegelte Grenzen noch aus eigener Anschauung. Ihre Tochter ist acht. »Sie weiß nicht, was Grenzen sind«, sagt Szalma. Also hat sie versucht, ihrem Kind zu erklären, warum an der Friedensstraße in Zittau der Weg gen Polen und Tschechien plötzlich endet. Sie habe das mit einer Tür verglichen, »die man erst aus den Angeln gehoben und nun wieder eingehängt hat« - und fest verschlossen dazu. Die Reaktion des Kindes: »Blödes Corona.«

So wie Szalmas Tochter fühlen viele im Dreiländereck - auch wenn sie es weniger unverblümt formulieren. Die offenen Grenzen seien »Teil meines Alltags gewesen«, sagt Franziska Schubert: »Ich vermisse das sehr.« Die 38-jährige Chefin der Landtagsgrünen in Sachsen wohnt in Ebersbach-Neugersdorf in der Oberlausitz; der direkte Weg von einem Teil der Doppelstadt in den anderen führt über das tschechische Jiříkov: »Das fiel einem aber nicht mehr auf.« Auch für Freundschaften, Familien, Arbeitsbeziehungen, politische Kontakte habe die Grenze keine Rolle mehr gespielt. Dass sie plötzlich wieder ein Hindernis ist, »bedeutet eine Zäsur in den Beziehungen«, sagt Schubert: »Es erinnert an eine längst vergangen geglaubte Zeit der Visionslosigkeit.«

Wie lange sie währen wird, ist offen. Robert Prymula, Chef des Prager Corona-Krisenstabes, sprach im März von bis zu zwei Jahren geschlossener Grenzen. Schubert hält das für ausgeschlossen. »Der Druck ist zu groß«, sagt die Grüne: »Länger als ein Vierteljahr ist das nicht zu halten.« Dass bleibender Schaden entstanden ist, schließt sie zumindest für die Menschen im grenznahen Raum aus. »Die Bande werden noch enger«, sagt sie: »Wir haben doch jetzt gemerkt, wie sehr wir einander fehlen.«

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