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Gelähmtes Land
Mit der weltweit größten Ausgangssperre versucht Indien, den Corona-Kollaps zu verhindern
Seit 57 Tagen sitzt Budhu Bai zusammen mit ihrem Mann und den vier Kindern unter einem Maulbeerbaum und versucht, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Es ist heiß und die 35-Jährige kann sich Hunger und Durst nicht leisten. Sie weiß nicht, wann sie und ihre Familie das nächste Mal etwas zu essen und zu trinken bekommen. Die vierfache Mutter ist nach Schätzungen eine von Hunderttausenden Wanderarbeitern, die in Indien während der Coronakrise gestrandet sind und jetzt vom Staat und Hilfsorganisationen versorgt werden müssen.
Um zu verhindern, dass im Land mit dem maroden Gesundheitssystem Hunderttausende sterben, hat die Regierung den weltweit größten Lockdown aller Zeiten angeordnet. Die Lähmung des 1,3-Milliarden-Einwohner-Staates könnte unzählige Menschenleben retten, doch die Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und sozialen Zusammenhalt sind schon jetzt massiv und könnten die drittgrößte Volkswirtschaft Asiens um Jahrzehnte zurückwerfen.
Eigentlich wollte Budhu Bai jetzt mit ihrem Mann und ihren 16 und dreizehn Jahre alten Söhnen auf den Feldern im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh mit Sicheln Weizen ernten. 300 Rupien, umgerechnet rund 3,62 Euro, sollten die vier arbeitenden Familienmitglieder so pro Tag und Kopf verdienen. Doch dann wurden manuelle Erntetätigkeiten verboten, und Budhu Bai und ihre Familie verloren von einem Tag auf den anderen ihre einzige Einkommensquelle. Seitdem leben sie mit 18 anderen Wanderarbeitern und ihren insgesamt 17 Kindern unterm Maulbeerbaum und warten, dass Premier Narendra Modi das Land aus dem künstlichen Koma erweckt.
Einmal täglich etwas zu essen
Die Wanderarbeiter warten ohne fließend Wasser, ohne Toilette, ohne Strom, ohne Dach über dem Kopf und ohne Perspektive. Wenn Budhu Bai sich erleichtern muss, wartet sie, bis es dunkel ist, denn auf den flachen Feldern ist es schwer, einen Fleck zu finden, der vor den Blicken der anderen geschützt ist. Einmal am Tag stellt der Bauer, für den sie zuvor gearbeitet haben, den Wanderarbeitern etwas zu essen hin. In Kanistern holen die Tagelöhner Wasser. Es reicht gerade, um in der Hitze den Durst zu stillen und sich vor dem Essen die Hände zu waschen. Seife gibt es nicht.
Mahatma Gandhi Seva Ashram, eine lokale Partnerorganisation der Welthungerhilfe, versorgt die gestrandeten Wanderarbeiter mit Weizenmehl, Linsen, Öl und Gewürzen. Die Hilfsorganisation hat Atemschutzmasken verteilt. Doch nachts rücken die Menschen unter dem Baum so dicht zusammen, dass auch Masken nicht helfen. In Indien, wo sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen keine Seltenheit sind, suchen Frauen und Mädchen vor allem nachts den Schutz der Gemeinschaft. Zudem haben die Tagelöhner andere Sorgen als soziale Distanz. »Ich weiß nicht viel über diese Krankheit«, sagt Budhu Bai. Sie, ihr Mann und ihre Kinder sind nie zur Schule gegangen. »Für mich ist der Lockdown schlimmer als der Virus. Ich darf jetzt nichts für mich und meine Familie verdienen. Außerdem wollen wir nach Hause, um beim Rest unserer Familie zu sein.«
Das wird wahrscheinlich bis mindestens 31. Mai nicht möglich sein. Denn bis dahin hat Premier Modi den Lockdown erneut verlängert. Zudem will die indische Regierung die aus Datenschutzgründen umstrittene, aber schon mehr als 100 Millionen mal runtergeladene Corona-Tracking-App Arogya Setu - auf Deutsch »Brücke zur Gesundheit« - einführen. Nicht nur die extrem dichtbesiedelten Slums der Megacitys, in denen sich oft über hundert Menschen eine öffentliche Toilette teilen müssen, gelten als tickende Zeitbomben. Die Regierung hat das Land in grüne, orange und rote Zonen eingeteilt. In den roten Hotspots gelten weiter strenge Regeln. In den orangenen und grünen Zonen, in denen mindestens drei Wochen lang keine neuen Fälle aufgetreten sind, gibt es Lockerungen. So wurde unter anderem der Verkauf von Alkohol teilweise erlaubt. Abstandsregeln wurden nicht eingehalten, es kam zu Tumulten, die Polizei ging mit Schlagstöcken gegen die Kunden vor, viele Läden schlossen wieder.
Vorbereiten auf das Schlimmste, hoffen auf das Beste
Selbst China ist nicht so rigoros gegen die Ausbreitung des Virus vorgegangen. Die indische Regierung tut es, weil sie weiß, dass sie keine andere Wahl hat. »Das Gesundheitssystem ist überhaupt nicht auf einen größeren Covid-19-Ausbruch vorbereitet. Die Folgen wären katastrophal«, so Dr. Christian Wagner, Indien-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Intensivbetten, Beatmungsgeräte, Testmöglichkeiten, Schutzausrüstung für das medizinische Personal - es fehlt an allem. »Auch wenn die Regierung jetzt viel unternimmt: Man kann im Gesundheitswesen nicht in wenigen Wochen die Versäumnisse von 70 Jahren nachholen«, so Wagner.
Bisher gibt es in Indien nach Angaben der amerikanischen Johns-Hopkins-Universität 101 261 bestätigte Coronavirusinfektionen, 3164 Menschen sind in dem Land demnach bisher an Covid-19 gestorben. Da in Indien bislang aber wenig getestet wird, dürfte die Dunkelziffer sehr hoch sein. Nach Angaben der Nachrichtenagentur dpa werden in Mumbai, der am stärksten von der Pandemie betroffene Stadt Indiens, schon jetzt Betten und Beatmungsgeräte für Coronapatienten knapp. Krankenhäuser seien deshalb angewiesen worden, Covid-19-Patienten bereits dann zu entlassen, wenn sie auf dem Weg der Besserung seien.
»Alle bereiten sich mit den begrenzt zur Verfügung stehenden Mitteln auf das Schlimmste vor und hoffen auf das Beste«, sagt Jacob Goldberg, medizinischer Koordinator von Ärzte ohne Grenzen in Indien.
Noch Ende März hatte Ramanan Laxminarayan, Direktor des Zentrums für Krankheitsentwicklungen in Washington, davor gewarnt, dass Indien sich zu einem globalen Corona-Hotspot entwickeln könne und das Land sich auf einen »Tsunami von Coronafällen« einstellen müsse.
Um das Schlimmste zu verhindern, hatte Modi deshalb am 24. März in einer Fernsehansprache verkündet, dass er bereits vier Stunden später eine landesweit geltende strenge Ausgangsperre verhängen werde. In Indien arbeiten nach Schätzungen bis zu 90 Prozent aller Erwerbstätigen ohne Arbeitsvertrag, die meisten von ihnen leben von der Hand in den Mund. Bis zu 40 Millionen Menschen sollen ihren minimalen Lohn als Wanderarbeiter verdienen. Ein Großteil von ihnen verlor durch den Lockdown über Nacht Arbeit und oft auch Unterkunft.
Hunderttausende auf dem Heimweg gestrandet
Nach der Fernsehansprache des Premiers machten sich deshalb in einem Massenexodus Hunderttausende Menschen überstürzt in überfüllten Bussen und Bahnen und auf den Dächern von Waggons auf den Heimweg. Als der öffentliche Personenverkehr eingestellt wurde, zogen Verzweifelte in großen Trecks mit Kindern und Gepäck auf dem Kopf zu Fuß auf Straßen, Gleisen und Autobahnen los. Einige legten Hunderte Kilometer zurück, Dutzende starben vor Erschöpfung, andere wurden von Autos oder Zügen überrollt, erschöpfte Frauen brachten neben Gleisen Babys zur Welt. Als die indischen Bundesstaaten ihre Grenzen schlossen, strandeten Hunderttausende.
»Zwar hat Indien das größte staatliche Lebensmittelverteilungs-Programm der Welt und in der aktuellen Krise Tausende Gemeinschaftsküchen eingerichtet, aber es ist davon auszugehen, dass gerade jetzt viele Menschen durchs Raster fallen. Viele Wanderarbeiter stehen jetzt vor dem Dilemma: Sterben wir am Virus oder am Hunger«, so Indien-Experte Christian Wagner. Größere soziale Unruhen befürchtet er dennoch nicht. »Dafür sind die Wanderarbeiter einfach zu verzweifelt. Im Zweifelsfall nehmen sie lieber die Mahlzeiten am Wegesrand an, statt sich einen aussichtslosen Kampf mit der übermächtigen Polizei zu liefern.«
Mitte Mai kündigte Premier Narendra Modi ein umgerechnet rund 245 Milliarden Euro schweres Corona-Rettungspaket an. Zu den Maßnahmen gehört auch ein 425 Millionen Euro großes Nothilfeprogramm für die Wanderarbeiter. So soll jede bedürftige Familie pro Monat fünf Kilo Getreide und ein Kilo Kichererbsen erhalten. Kritiker meinen jedoch, dass diese Maßnahmen nicht reichen und zu spät kommen.
Auf die indische Wirtschaft wird die Coronakrise trotz Rettungspaket schwerwiegende Auswirkungen haben. »Die Wirtschaft schwächelte schon vor Corona, die Arbeitslosigkeit war so hoch wie seit Jahren nicht mehr. Nach dem jetzt zu erwartenden dramatischen Einbruch wird die Regierung verstärkt auf ihr «Make in India»-Programm setzen, um die einheimische Industrie zu stärken«, prognostiziert Wagner.
Seit dem 1. Mai bringen Sonderzüge gestrandete Arbeiter zurück in ihre Heimat. Doch Wanderarbeiterin Budhu Bai weiß wie Hunderttausende andere nicht, ob sie einen Platz bekommen. Sie macht sich Sorgen, ob ihre Kinder unterm Maulbeerbaum satt werden. Heute. Und morgen.
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