Der Ekel

Corona konnte unser Verhältnis zum Körper verändern, da es bereits verändert war

  • Stefan Ripplinger
  • Lesedauer: 6 Min.

Corona hat unser Verhältnis zum Körper, vor allem zu dem der anderen, grundlegend verändert. Doch selten kommt eine Veränderung über Nacht, und das gilt auch für diese nicht. Um das einzusehen, sollten wir uns um fünfzig Jahre zurückversetzen.

Zwischen 1968 und 1970 ging auf der Erde die »Hongkong-Grippe« um. Sie forderte zwischen 750 000 und zwei Millionen Menschenleben, allein in der BRD etwa 40 000 und einige Tausend sogar in der DDR. Genauer lässt sich das nicht mehr feststellen. Denn weder wurden flächendeckende Untersuchungen angestrengt noch nennenswerte Maßnahmen ergriffen. Die europäische Presse berichtete, wenn überhaupt, unter »Vermischtes« über diese Epidemie.

Es lässt sich nur darüber spekulieren, wie die Europäer reagiert hätten, hätten Politik und Presse ähnlich massive Maßnahmen gegen die Hongkong-Grippe verkündet wie heute gegen Corona. Aber Politik und Presse sind wiederum keine unabhängigen Instanzen, sondern Funktionen des kapitalistischen Systems, das auch die Gesellschaft regiert. Weil es damals so, heute anders gehandelt hat, darf angenommen werden, dass auch eine Bevölkerung, die inzwischen in überwältigender Mehrheit bereit ist, harsche Eingriffe in ihr Leben zu dulden, es vor 50 Jahren noch nicht gewesen wäre. Was hat sich also seither verändert?

Ende der sechziger Jahre waren die europäischen Länder noch Industriegesellschaften auf unterschiedlichem Entwicklungsstand. Zwar hatte die Globalisierung im Westen, vor allem in der Schwerindustrie, bereits Spuren hinterlassen, aber griff noch nicht wie heute in das Geschehen ein. Auch wenn der alte Muff weiter Parlament, Gericht, Schule oder Fabrik in der BRD bestimmte, lief durch das Bürgertum bereits ein Riss entlang der Generationengrenze. Die Alten hatten auf die eine oder andere Weise dem NS-System gedient, sie waren seelisch und körperlich gepanzert, die Jungen wollten diesen Panzer aufbrechen. Das begründete sich zwar historisch und revolutionär, aber ging mit der fortschreitenden Liberalisierung konform. Liberalisierung der Märkte, Liberalisierung der Sitten - der Westen überwand eine überkommene Sexualmoral auf kapitalistische, der Osten auf sozialistische Weise. Hier wie da war ein neuer Körper greifbar, Lust und Rausch galten nicht länger als beunruhigend, sondern als erstrebenswert. Es wäre zu einfach, zu behaupten, dass Aids dieser Befreiung der Körper ein Ende gesetzt hat. Aids blieb, bei allen Lippenbekenntnissen zur Toleranz, doch die Krankheit der Randständigen.

Viel wichtiger waren die Veränderungen, die sich nach 1989 vollzogen. Die Umwandlung der Industrie- in eine Dienstleistungsgesellschaft ging, auch unter dem Druck der Globalisierung, mit einer enormen Deregulierung einher. Sie musste zu einer Veränderung erst der Arbeits-, dann der Lebensverhältnisse führen. Der Arbeiter am Fließband, die Angestellte im Großraumbüro, der oder die mit anderen eng beisammensteht oder -sitzt und noch abends im Verein oder in der Kneipe ihre Nähe sucht, sind seither nicht länger typisch. Nicht nur die Digitalisierung begünstigte das Aufkommen der nicht mehr gebundenen, vielfach auch nicht mehr abgesicherten Selbstständigen im »Home Office«. Dass solche Selbstständigen kein Problem damit haben, isoliert zu werden, versteht sich von selbst, sie sind es sowieso.

Der marxistische Theoretiker Fredric Jameson erkannte, dass in einer »ausgebrannten bürgerlichen Kultur« der Körper zu einer »letzten Realität« werde. Das ist der obsessiven Beschäftigung mit Fitness, mit Ernährung, mit Krankheit abzulesen; wer nicht wenigstens drei Allergien vorweisen kann, wird zum bürgerlichen Tee nicht zugelassen. Das bedeutet aber auch, der Körper ist nicht nur eine »letzte«, sondern auch eine problematische Realität. Die alte Sexualmoral kehrt deshalb nicht zurück, wofür allein schon der allmähliche Verfall von Ehe, Familie und Kirche spricht. Aber ein liberaler Zeitgenosse, der zwar mit vielen ununterbrochen in Kontakt steht, aber immer nur aus einem Abstand, per Handy, E-Mail oder Internet, muss ein neues Verhältnis zum Körper der anderen entwickeln.

Dass der andere, dass ich existiere, gilt auch, schreibt Jean-Paul Sartre in »Das Sein und das Nichts« (1943), wenn wir uns nicht von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Der Freund und ich haben schon gestern existiert, als er sich mit einer Mail (bei Sartre ist es noch ein »Rohrpostbrief«) ankündigte. Aber seine körperliche Nähe ist doch etwas Gegenständliches und zugleich Bewegtes, etwas Eigenartiges und zugleich Mögliches, etwas Unbegründetes und zugleich Übersteigendes. Sartres Philosophie irritiert damit, dass sich ihr zufolge die leibliche Existenz zunächst weder in Anziehung noch in Freude, sondern in einem »Ekel« oder »Unwohlsein« offenbart - nicht etwa, weil der Körper selbst abstößt, sondern weil er als zufällige Gegebenheit etwas Grundloses hat.

Während der Corona-Zeit konnten wir beobachten, wie der Ekel in Furcht und Hass umschlug. Ich sah eine junge, vermummte Frau, die in der U-Bahn einen Meter von mir entfernt stand und mir als einem Mitglied der »Risikogruppe« zitternd den Rücken zuwandte. Als sich die Waggontür öffnete, flüchtete sie wie eine Gazelle vor einem Buschbrand. Eine andere junge, vermummte Frau sah ich auf einer Abteilbank, links und rechts von ihr jeweils noch Platz für eine Person. Als sich eine ältere Dame zu ihr setzen wollte, scheuchte sie sie davon wie eine lästige Fliege. Abstandsregel! Auffällig war, dass die Alten, Gefährdeten diese Regel viel großzügiger handhabten als die Jungen, Wenig-Gefährdeten.

Deshalb ist nicht anzunehmen, dass sich die Distanz aufhebt, sobald die Krise für beendet erklärt wird. Distanz hat sich nicht erst mit Corona, sondern mit der postindustriellen Wirtschaft und der technisierten und atomisierten Gesellschaft durchgesetzt und nun, wenigstens vorübergehend, absolute Macht erlangt. In einer aktuellen Umfrage unter Franzosen im »Home Office« erklären vier Fünftel, sie wollten diese Arbeitsweise auch nach der Krise fortsetzen, sie könnten sich so »besser konzentrieren«.

Es scheint ein Widerspruch darin zu bestehen, dass der Ekel bei Sartre überhaupt erst die Verbindung zur (leiblichen) Existenz ermöglicht (man erinnere sich an die Parkszene in dem Roman »Der Ekel«; 1938), während er unter Corona-Bedingungen den Abstand zu ihr nur vergrößert. Der Widerspruch löst sich auf, achtet man auf die Bedingungen von Begegnung. Auch in den Situationen, die Sartre beschreibt, setzt Begegnung Trennung voraus, aber wo allein Getrenntsein als sicher gilt, verliert die ohnehin stets riskante Begegnung jegliche Anziehungskraft. Mag das Unwohlsein vor der grundlosen Existenz des anderen eine Verbindung mit ihm eingeleitet haben, macht es sie nun zunichte.

Eine junge Generation, die sich ihre Partner längst nicht mehr aus dem Nachtleben, sondern aus dem Netz wählt, wird sich auch dieser Entfremdung anpassen. Sie wird nicht mehr wissen, welche Bereicherung die körperliche Nähe selbst von Hässlichen bedeutet hat. Ekel wird bei ihr nicht mehr durch Lust oder Schmerz überwunden, wie es noch Sartre sah, sondern durch Distanz. Weil sie sich aber vor Begegnungen abdichtet, wird Distanz auch nicht mehr die Sehnsucht anstoßen können, in der Little Richard in seinem stärksten Song (»Directly From My Heart to You«) klagt: »Zusammen könnten wir glücklich sein, / Aber du bist so weit weg.«

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