»Es ist desaströs«

Ist Musik systemrelevant? Ein Gespräch mit Dirk Jora von Slime über Corona, Hartz IV und hirnrissigen Protest

  • Jakob Buhre
  • Lesedauer: 7 Min.

Mitte März, kurz vor dem Lockdown, erschien nach langer Zeit das neue Slime-Album »Wem gehört die Angst«. Die Konzerte dazu wurden dann abgesagt. Wie ist es Ihnen seitdem ergangen?
Die Situation ist sehr bitter, sowohl für die Band als auch für die einzelnen Mitglieder. Ich selbst habe eine Vorerkrankung und habe mich deshalb schon frühzeitig in Schutzquarantäne begeben. Wenn mich das Virus erwischt, sieht es nicht gut aus. So lange kein Impfstoff da ist, muss ich versuchen, meine sozialen Kontakte stark einzuschränken. Ich wohne in Schleswig-Holstein auf dem Land, da besuche ich zwar auch meine Nachbarn, aber wir treffen uns nur im Garten und halten Abstand.

Wie sieht es finanziell für die Band aus?
Desaströs. Es gibt jetzt Lockerungen zum Beispiel für Schulen und Schwimmbäder, aber unbestuhlte Konzerte - das wird das Letzte sein, was wieder zugelassen wird. Wie viele andere Musiker leben wir von der Bühne in den Mund. Das Internet ist zwar einerseits ein sehr demokratisches Medium, das viele Möglichkeiten eröffnet, andererseits hat es sehr viele Arbeitsplätze vernichtet. Früher kamen etwa 50 Prozent unserer Einnahmen aus Tonträgerverkäufen, heute sind es vielleicht noch fünf Prozent - und die werden vor allem mit dem Backkatalog erzielt. Auch wenn wir mit unseren letzten Alben auf Platz 9, 12 oder 19 der Charts waren - damit verdienst du nichts. Das heißt: Keine Auftritte, keine Einnahmen.

Dirk Jora

Dirk Jora (Mitte) ist Sänger der linken Punkband Slime, gegründet 1979 in Hamburg. Durch die inkriminierten Parolenlieder des Frühwerks (»Deutschland muss sterben«, »Wir wollen keine Bullenschweine«, »Polizei SA/SS«) schnell bekannt geworden, versucht die Band der Erwartungshaltung ihrer Fans immer wieder neu zu entkommen. Und dann kam die Coronakrise, kurz nach Erscheinen ihres neuen Albums »Wem gehört die Angst«. Mit Jora sprach Jakob Buhre.

Foto: Mirja Nicolussi

Und die Band konnte keine Corona-Soforthilfe beantragen?
Nein. Weder unsere persönlichen Steuerberater noch die Steuerberater der Band haben einen Topf gefunden, aus dem wir irgendeine Summe bekommen könnten. Wir haben nicht einen einzigen Cent bekommen. Null. Deshalb musste ich mit 60 Jahren noch mal zum Sozialamt und Hilfe zum Lebensunterhalt beantragen. Das ist emotional und psychisch gesehen nicht besonders toll, aber was bleibt dir anderes übrig? Ich kann jetzt aus eigener Erfahrung sagen, dass der Begriff »soziale Hängematte« übelste Propaganda ist, denn es ist unmöglich, davon zu leben. Ich bekomme 432 Euro im Monat, davon muss ich noch unter anderem Strom, Internet, Telefon, Fernsehen, Rentenversicherung, Müllabfuhr und Wasser bezahlen. Und auf dem Land brauche ich ein Auto. Am Ende versuche ich im Moment, von 150 Euro im Monat zu leben.

Also Hartz IV statt Soforthilfe.
Genau, die Hilfe besteht sozusagen in dem vereinfachten Antrag. Und dann musst du versuchen, damit klar zu kommen.

Kritiker könnten Ihnen nun vorhalten, dass Sie als Punkband oft gegen den Staat angesungen haben, von dem Sie jetzt Hilfe erwarten.
Das ist doch Quatsch! Solche Argumente hört man ausschließlich von Leuten, die noch nie in ihrem Leben beim Sozialamt betteln gehen mussten, schon gar nicht mit 60. Wir haben in unserer insgesamt 40-jährigen Geschichte viele Arbeitsplätze geschaffen, von Security bis Plakatdrucker, wir haben Gelder en masse generiert und dem Staat große Steuereinnahmen beschert. Jetzt, in einer Situation, wo wir durch die Corona-Maßnahmen keinerlei Einnahmen haben, Hilfe vom Staat zu bekommen - darin sehe ich keinen Widerspruch.

In den ersten Wochen der Pandemie wurde zwischen systemrelevanten und nicht systemrelevanten Berufsgruppen unterschieden. Sind Künstler systemrelevant?
Aus Sicht der Politik vermutlich nicht, wenn man sich anschaut, wie wenig Töpfe jetzt für Künstler da sind. Der »Stern« hat kürzlich in einem Artikel gezeigt, wie häufig das Wort »verzichtbar« zu hören ist, wenn es um Hilfen für Künstler geht. Ich bin kein Fan von Plattitüden, aber zumindest für Hamburg kann ich sagen: Hier gibt es im Großen und Ganzen nur Geld für Kultur, wenn sie in der Elbphilharmonie stattfindet. Clubs wurden auch vor Corona nicht unterstützt. Sicher ist ein Konzert in der Akustik der Elbphilharmonie ganz toll, dafür hat sie ja auch 800 Millionen Euro gekostet. Auf der anderen Seite müssen Clubs beim Kultursenat sehr lange betteln, um vielleicht mal eine Monatsmiete bezahlt zu bekommen.

Sind Musiker denn aus Ihrer Sicht systemrelevant?
Ja, denn das Leben besteht - um es mit dem größten Hit der Godfathers zu sagen - nicht nur aus »Birth, School, Work, Death«, sondern eben auch aus kulturellen Erfahrungen. Ähnlich sehe ich das beim Fußball. Auch wenn ich zum Wiederhochfahren der 1. und 2. Bundesliga ein ambivalentes Verhältnis habe, weiß ich, dass für viele Fans die Spiele ein soziokulturelles Highlight sind. Wir haben hier auf dem Land einen kleinen St. Pauli-Fanclub, wir haben uns jetzt den Fernseher in den Garten gestellt und zum ersten Mal seit zwei Monaten wieder getroffen.

Seit mehreren Wochen demonstrieren verschiedene Bündnisse gegen die Corono-Einschränkungen. Was halten Sie von diesen Protesten?
Ich finde ihn hirnrissig, für mich sind das komplette Idioten, egal ob sie nun von rechts oder von links kommen. Solche Leute sind für mich auch gar nicht links. Haben die nicht gesehen, wie in Bergamo oder New York die Leichen abtransportiert wurden? Wissen die nicht, was aktuell in Brasilien oder Russland lost ist? Ich finde es äußerst merkwürdig, dass jetzt auch Teile der linken Szene mit Reichsbürgern, AfDlern oder noch schlimmeren auf die gleiche Demo gehen.

Also kein Verständnis dafür, dass sich gegen die Einschränkung von Grundrechten Widerstand regt?
Ich bin der Letzte, der Eingriffe in die Grundrechte verteidigt, Slime hat immer dafür gestanden, dass staatliche Behörden nicht zu weit in unser Leben eingreifen. Nur frage ich mich heute: Was ist die Alternative? Die Leute, die dort jetzt demonstrieren, sollen die etwa die Pandemie in den Griff kriegen? Und ist denen bewusst, dass sie einen großen Teil der Gesellschaft ausschließen? Ich finde, zu Beginn der Coronakrise haben sich linke Zentren wie die Rote Flora in Hamburg korrekt verhalten, indem sie gesagt haben: Wir schließen, weil wir ansonsten Risikogruppen und ältere Mitbürger von den Veranstaltungen ausschließen müssten. Das ist Solidarität. Die Leute, die jetzt auf die Hygiene-Demos gehen, glauben vielleicht auch, sie würden solidarisch handeln, für mich sind sie aber absolut unsolidarisch.

Wie schwierig ist der Umgang mit den Corona-Maßnahmen für die linke Szene?
Ich sehe doch genauso, dass manche Maßnahmen drüber waren oder sind. Und für Slime ist das Gebilde Staat auch tatsächlich immer der Feind gewesen. Doch die Demos gehen mir auf die Nerven, weil du durch diese Massenansammlungen andere Menschen gefährdest - und weil es gewissermaßen in meinem Namen mitpassiert. Wobei ich auch sage, dass es eine »linke Szene« heute gar nicht gibt. Die hat es vielleicht gegeben zu Zeiten der Anschläge von Mölln, Rostock, Solingen und Hoyerswerda, aber heute gibt es die nicht. Das sind alles Mythen und Mären. Genauso wenig gibt es die Antifa. Da wird immer so getan, als sei das ein Verein mit Vorstand und Mitgliedsnummern, dabei sind das total dezentrale Organisationsformen.

Wie erklären Sie sich, dass die politische Linke gefühlt genauso oft mit anderen Richtungen streitet wie mit Leuten in den eigenen Reihen?
Diese inneren Zerwürfnisse in der Linken, wenn ich das erklären könnte, dann hätte Slime darüber schon ein Konzeptalbum gemacht (lacht). Was ich zum Teil sehe, ist so ein sektiererisches Verhalten, ein missionarischer Eifer, mit dem dir ein bestimmter Glaube eingeredet werden soll - und ich hasse Religion, ich bin ein offensiver Atheist. Jeder soll glauben, woran er möchte, es mir aber nicht aufzwingen. Und oft ist es mir zu viel Schwarz-Weiß-Denken, nach dem Motto: Wenn du nicht für uns bist, bist du automatisch gegen uns. Sprich das, was wir an der »Bild«-Zeitung so hassen, platte Schlagzeilen ohne Grautöne, alles reduziert auf Schwarz-Weiß, das gibt es auch innerhalb der Linken.

Wurden Sie auch schon von links angegriffen?
Klar, damit haben wir als Band auch zu tun gehabt. Ich war aber vorgewarnt: Ich bin 1981 eine Woche mit Rio Reiser auf Tour gewesen. Und ich erinnere mich noch sehr gut, wie er mir gesagt hat: Leg dir ein dickes Fell zu, für all die Vorwürfe, die noch kommen werden. Mit Ton Steine Scherben hatte er das damals schon durch, dann hat er seine Solo-Geschichten gemacht, und es hieß dann »politischer Verräter«, »Kommerz-Schwein« und so weiter. Solche Vorwürfe habe ich mit Slime dann später auch erlebt.

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