Streik als Grundrechtsausübung

Aktivisten wollen gegen das Verbot politischer Streiks mit juristischen Mitteln vorgehen

Am 8. März 2019 wurde zum bundesweiten Frauen*streik aufgerufen, und die Schülerbewegung »Fridays for Future« mobilisierte am 20. September und 29. November zum Klimastreik - mit rund einer Millionen Teilnehmenden in Deutschland. Doch an beiden Tagen waren Büros und Fabrikhallen nicht leer, denn wer streiken wollte, musste sich Urlaub nehmen. Einige Unternehmen und der öffentliche Dienst riefen die Beschäftigten auch dazu auf. Ein echter Streik konnte so natürlich nicht entstehen.

Im aktuellen Grundrechtereport beschäftigt sich Theresa Tschenker, die an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) zum Arbeitskampf in der Altenpflege promoviert, mit den politischen Streiks von 2019 und dem faktischen Verbot des politischen Streiks in Deutschland.

Das Streikverbot ist für Tschenker ein »Konstrukt der Rechtsprechung der frühen Bundesrepublik«. Entstanden war es 1952 nach einem Streik von Zeitungsmitarbeitern gegen den Entwurf des Betriebsverfassungsgesetzes. Die Unternehmer hatten den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) daraufhin auf Schadensersatz verklagt und in den meisten arbeits- und zivilrechtlichen Prozessen Recht bekommen. Gestützt wurde die Auffassung der Zeitungsverleger von drei Rechtsgutachten - von Juristen, die »ihre rechtswissenschaftliche Karriere im Nationalsozialismus auf- und ausgebaut« hatten, so Tschenker. Einer von ihnen war Hans Carl Nipperdey, der 1954 der erste Präsident des Bundesarbeitsgerichts wurde und Grundlagenurteile zum Arbeitskampfrecht maßgeblich prägte.

Dabei wird im Grundgesetz das Streikrecht nicht politisch eingeschränkt. Der entsprechende Artikel 9 ist weit gefasst, Streiks zur »Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen« sind demnach möglich. Tschenker führ aus, es gebe zahlreiche Möglichkeiten, für nicht von Tarifparteien, sondern vom Staat zu schaffende Grundlagen wie den Mindestlohn gestreikt werden könnte. Entscheidungsfindungen zu Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen seien immer auch politisch. Außerdem sei ein Arbeitskampf eine Grundrechtsausübung. Dass der politische Streik von Gerichten sanktioniert und unerwünscht sei, sei »dem Grundgesetz fremd«, so die Autorin.

Tschenker ist der Auffassung, es lohne sich, gegen das Verbot politischer Streiks mit juristischen Mitteln vorzugehen. Das Bundesarbeitsgericht und das Bundesverfassungsgericht hätten bisher nicht über einen politischen Streik entscheiden müssen. Es gebe aber positive Zeichen. So habe das Bundesarbeitsgericht in den letzten Jahren mehrfach angedeutet, die »Beschränkung des Streiks auf Tarifverhandlungen einer neuen Bewertung aufgrund von europa- und völkerrechtlichen Gewährleistungen« unterziehen zu wollen. Das Bundesverfassungsgericht habe Ähnliches signalisiert.

Nach Ansicht von Theresa Tschenker »illegalisiert« die bisherige Rechtspraxis die Verwirklichung eines Grundrechts. Sie hofft, dass »kommende Frauen*streiks und Klimastreiks von Mutigen genutzt werden«, um wirklich zu streiken und dann juristisch gegen das Verbot des politischen Streiks vorzugehen. Damit könne der »Weg für die Änderung der Rechtsprechung« geebnet gemacht werden.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.