• Politik
  • Chinas Verhältnis zur Welt

Großmächte im Umbruch

Im Spiegel künftiger Konflikte tragen die EU und Deutschland eine herausgehobene Verantwortung

  • Kai Kleinwächter und Lutz Kleinwächter
  • Lesedauer: 7 Min.

Das 21. Jahrhundert wird bestimmt durch dynamische, widersprüchliche Verschiebungen der Kräfteverhältnisse im Rahmen der Internationalisierung sowie einer globalisierungskritischen Wiederbesinnung auf nationalstaatliche Interessen. Ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt unter dem Etikett einer bedrohlichen »Klimaveränderung« die Komplexität des Umwelt- und Ressourcenschutzes. Eine beschleunigte ökonomisch-soziale Entwicklung der Staaten und Völker sowie der Abbau des klassischen Nord-Süd-Gefälles sind existenziell. Eine dystopische Vorahnung vermitteln die zunehmenden Handels- und Verteilungskonflikte, Hungerkrisen, Regional- und Bürgerkriege, Flüchtlingsströme, autoritäre Herrschaftsstrukturen sowie destabilisierende Klimaveränderungen und Pandemien.

Dominante Großmächte sind out

Die Autoren

Kai Kleinwächter, Jahrgang 1980, studierte Volkswirtschaft, Politik, Geschichte, Internationales Management und Geografie. Seit 2010 ist er Dozent an Hoch- und Fachschulen.

Prof. Dr. Lutz Kleinwächter, geboren 1953, ist Professor für Wirtschaftspolitik und Außenwirtschaft an der bbw-Hochschule der Wirtschaft in Berlin. Seit 2004 ist er Vorsitzender von WeltTrends e. V.

Der hier abgedruckte Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Artikels aus dem Juni-Heft des außenpolitischen Journals »Welttrends«. Es beschäftigt sich in einem Themenschwerpunkt mit Umbrüchen in der geopolitischen Großregion Europa und Asien.

Die USA sind und bleiben eine multidimensionale Großmacht, die in allen wesentlichen gesellschaftlichen Bereichen - Politik, Ökonomie,Technologie, Militärwesen, Kultur - die Weltprobleme entscheidend mit beeinflusst. Dabei ist die Trump’sche America-first-Politik ein hyperpatriotisches Konzept der Revitalisierung von Machtpotenzialen zur Durchsetzung globaler US-Interessen. Illusionäres Ziel ist die Wiedererlangung einer dominanten Weltmachtstellung.

Russland ist eine zweidimensionale Großmacht. Nach dem Niedergang in der Ära Gorbatschow/Jelzin wurde Russland unter Präsident Putin stabilisiert. Es stützt sich dabei auf seine Militärmacht, insbesondere nuklearstrategische Kernwaffen, und die weltweit größten Rohstoffvorkommen. Aufgrund ihrer Strategiekompetenz und einer autoritär-demokratischen Staatsorganisation gelingt es der russischen Führung, wachsenden Einfluss zu gewinnen. Das betrifft besonders die eurasischen Nachbarregionen.

China ist in den letzten vier Jahrzehnten mit einem außerordentlichen Wirtschaftswachstum sowie gesellschaftspolitischen Reformen zu einer globalen Großmacht aufgestiegen. Es konkurriert zunehmend in Wirtschaft, Politik und Militär mit den USA. Großprojekte der Erschließung EurAsiens sollen vor allem seine internationale Wirtschaftsexpansion absichern. Auf vorhandene Probleme reagiert die chinesische Führung unter Präsident Xi zunehmend mit (partei-)politisch geführter, staatlicher Machtkonzentration.

Die Europäische Union ist eine demokratische Großmacht anderer Art - ein über 70 Jahre gewachsenes, vorrangig ökonomisches Integrationsbündnis von 27 Kontinentalstaaten (nach dem Brexit) mit einem starken Gemeinsamen Markt und der Euro-Währungsunion. Die politischen und militärischen Dimensionen der Integration wurden erst ab den 80er und 90er Jahren vorangetrieben. Die Achse Deutschland-Frankreich ist der EU-Nukleus im Kerneuropa. Die EU selbst leidet an Schwächen ihrer Führungseliten und einer Unterbewertung der eigenen zivilisatorischen Leistung als Großraum mit dem weltweit höchsten Lebensstandard.

Historische Erfahrungen erzwingen prognostische Skepsis. Das gilt auch für das »Jahrhundert Asiens« und in besonderer Weise China. Einerseits die Überzeichnung der ökonomischen und sozialen Fortschritte sowie ihrer Zukunftsprojektion. Andererseits die Verdammung als totalitäre Diktatur sowie imperiale Expansionsmacht. Es ist das Bewusstsein dafür zu schärfen, »dass der Fortschritt höchst ungleich verteilt und noch viel zu verbessern ist. Zu kurz kommt aber, dass die aufsteigenden Tendenzen auch wieder abbrechen können und extreme Ereignisse zwar sehr selten sind, dafür aber umso katastrophaler ausfallen«, wie Gert Krell in der »Zeitschrift für Politik« schrieb. Die aktuelle Corona-Pandemie ist ein prägnantes Beispiel. Die Großmächte sind angesichts der Gesamtsituation nicht mehr in der Lage, eine globale Dominanz durchzusetzen.

Differenzierte Wachstumsverluste

Bei einem Vergleich des Bruttoinlandprodukts (BIP) der großen Mächte täuscht die »Magie der absoluten Zahlen«. Die mit deutlichem Abstand »stärksten« Volkswirtschaften der Welt waren 2018 die USA (20 600 Milliarden US-Dollar), die EU (15 000 Milliarden US-Dollar ohne Großbritannien) und China (13 400 Milliarden US-Dollar). China erzielte die höchsten Wachstumsraten der letzten 40 Jahre, die bei 8 bis 14 Prozent jährlich lagen. Mittlerweile sind die Wachstumsraten jedoch auf unter 6 Prozent gefallen. Das »Wirtschaftswunder China« scheint seinem Ende entgegenzugehen. Indien weist ein Wirtschaftswachstum von 6 bis 8 Prozent auf und liegt mit dem BIP bei circa 70 Prozent des deutschen BIP-Niveaus. Die seit einem Jahrzehnt stagnierende Wirtschaft Russlands erreicht rund 40 Prozent des BIP von Deutschland.

Vorrangiger ökonomischer Indikator für den »Volkswohlstand« ist jedoch das BIP pro Kopf. Hoch entwickelte Länder des »Westens« liegen bei ca. 35 000 bis 60 000 Dollar pro Kopf. Russland und China hinken hier mit dem Faktor 1 zu 3 - 6, Indien sogar 1 zu 20 - 30 hinterher. In der Verteilungsbetrachtung kann China »den Westen« eventuell gegen Ende dieses Jahrhunderts einholen. Problematischer ist es für Indien, das angesichts von Bevölkerungsexplosion und instabiler Wirtschaft bis ins nächste Jahrhundert weniger positive Aussichten hat.

Frieden durch (Selbst-)Abschreckung

Das militärische Kräfteverhältnis zwischen den Großmächten im Doppelkontinent EurAsien ist überschaubar. Eine direkte Kriegsgefahr zwischen ihnen ist angesichts der jeweils vorhandenen Raketenkernwaffen hochgradig unwahrscheinlich. Dadurch existiert eine wesentliche, wenn auch problematische Rahmenbedingung für eine friedliche Entwicklung. Die seit den 1960er Jahren global wirkende »gegenseitig gesicherte Zerstörung« zwischen den USA und Russland deckt den eurasischen Raum mit ab. Die nukleare Aufrüstung von China, Indien und Pakistan, Israel und Nordkorea schafft komplizierende Faktoren der (Selbst-)Abschreckung. Eine weitere Verbreitung von Atomwaffen ist laut SIPRI-Analyse wenig wahrscheinlich, aber möglich. Das ändert jedoch nicht die Grundsituation. Über eine objektiv erzwungene und subjektiv verstandene Friedensfähigkeit der Führungseliten nuklearer Mächte ist nachzudenken. Diese Gesamtsituation verhindert jedoch nicht gesellschaftszerstörende Bürgerkriege und Kriege zwischen Nichtkernwaffenstaaten.

Anhaltende Großprobleme

Der von der UNO seit 1990 jährlich ermittelte Index menschlicher Entwicklung (HDI) erfasst das BIP pro Kopf, die Lebenserwartung und die Dauer der Schulausbildung der Bevölkerung von circa 190 Staaten. Die Positionierungen von China (Platz 85) und insbesondere Indien (Platz 129) zeigen hier im Vergleich mit den anderen Großmächten (Plätze 4 - 49) gravierende Defizite einer nachzuholenden Entwicklung. Überdeutlich wird der Problemzustand beider Staaten unter Hinzuziehung der Umweltsituation. Der entsprechende Index erfasst 16 Indikatoren von 180 Staaten, unter anderem Gesundheit, Luft- und Wasserqualität, Biodiversität sowie Energie- und Rohstoffressourcen. In Indien (Platz 177) und China (Platz 120) ist der Umweltstandard hochgradig kritisch für große Teile der Bevölkerung. Das Wirtschaftswachstum wurde wesentlich zulasten der Umwelt realisiert. Unter Berücksichtigung der Bevölkerungsgröße von jeweils 1,4 Milliarden leben allein in Indien und China etwa ein Drittel der Menschheit in akut problematischen Umweltverhältnissen. Diese bedürfen einer jahrzehntelangen Stabilisierungspolitik und werden wesentliche Teile des BIP beanspruchen. Es erfordert eine grundsätzliche Veränderung der Lebensweise, der Produktion und des Konsums, sowohl in den hoch entwickelten wie auch aufholenden Ländern. Die Grenze der »ökologischen Tragfähigkeit« der Erde wurde bereits in den 80er und 90er Jahren überschritten.

Schlussfolgerungen

Ökonomie: Die zwei westlichen Zentren - USA und EU sowie abgestuft Japan - werden im 21. Jahrhundert ökonomisch führend bleiben. Das betrifft insbesondere ihr wirtschaftliches Potenzial, um der gesamten (!) Bevölkerung eine hohe Lebensqualität zu ermöglichen. China und vor allem Indien werden das so nicht realisieren können.

Militär: Zwischen den Großmächten herrscht ein militärstrategisches Patt. Das instabile Gleichgewicht der Abschreckung bedeutet, dass die Option der militärischen Unterwerfung endgültig unrealistisch ist.

Ökologie: Die großen Mächte leben über ihre Verhältnisse und sehen existenziellen ökologischen Instabilitäten entgegen. Alle müssen ihre Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme umgestalten. Die EU und China haben diese Herausforderung widersprüchlich angenommen. Indien, Russland und derzeit auch die USA sind bislang nicht fähig bzw. willens, entsprechende Reformen umzusetzen.

Deutschland muss eine Stabilitätsstrategie befördern

Europa: Im Vordergrund stehen die Einigung der EU und ihre Rolle als überregionale und zunehmend globale Friedensmacht. Nur im engen Bündnis können Deutschland und Frankreich als EU-Kernstaaten ihre zentrale Rolle wahrnehmen. Demgemäß vereinbarten sie im vergangenen Jahr in Aachen die Vertiefung ihrer »Zusammenarbeit in der Europapolitik.

EurAsien: Der Doppelkontinent bietet für eine Kooperation der EU mit Russland, China und Indien außerordentliche Zukunftsoptionen. Deutschland kann dabei eine Brückenfunktion übernehmen. Vorrang haben wirtschaftliche Großprojekte. Jegliche Sanktionspolitik ist kontraproduktiv. Das durch die KSZE/OSZE seit den 70er Jahren entwickelte Beziehungsgeflecht ist ein Schatz der europäischen Zivilisation. Es muss (wieder-)belebt, ausgebaut und langfristig in die eurasische Staatenwelt, inklusive den Nahen und Mittleren Osten, eingebracht werden. Nordamerika. Überfällig ist eine schrittweise Schaffung ökonomischer, politischer und auch militärischer Unabhängigkeit von den USA, bei Aufrechterhaltung kooperativer transatlantischer Beziehungen. Eine Neubewertung des Verhältnis Deutschland/EU zur anglo-amerikanischen Partnerschaft nach dem Brexit steht aus.

Es bedarf neuer sinnstiftender Erzählungen und Visionen für eine friedlich-kooperative Gestaltung EurAsiens und der Welt insgesamt. Im Mittelpunkt steht dabei die Stärkung einer multilateralen (!) Stabilität. Die Lösung globaler Probleme erfordert die «Akzeptanz von Pluralität und Andersartigkeit». Eine konsequente Umsetzung des Völkerrechtsprinzips der «Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten» im Rahmen einer Politik der friedlichen Koexistenz ist dafür notwendig. Die EU mit Deutschland kann einen positiven Beitrag leisten.

Mit diesem Artikel setzen wir auch eine Artikelserie zur Entwicklung und weltpolitischen Rolle Chinas fort. Bisher erschienen dazu: «Das Gerede von der chinesischen Seuche» von Hans Modrow («nd» vom 12.5.), «Es genügt nicht, Gegner der USA zu sein» von Wulf Gallert (22.5.) sowie «Nicht Peking ist der Bösewicht» von Uwe Behrens (2.6.).

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