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Geschlecht: ich
Jeanne Riedel wurde als Junge erzogen. Erst mit Ende 20 erfuhr die Münchnerin, dass sie intersexuell ist
Von der Mittagshektik lassen sich die Katzen nicht stören, die zusammengekringelt in den Ecken des Münchner Cafés herumliegen. Jeanne Riedel geht - ein paar Wochen vor der Coronakrise - an voll besetzten Tischen und schlafenden Tieren vorbei in den ruhigeren hinteren Raum. Die 34-Jährige trägt langes Haar, eine pinke Strickjacke - und einen grünen Schal, als Zeichen für die Partei, in der sie sich engagiert. Die meisten Menschen würden sie ohne zweiten, prüfenden Blick als Frau identifizieren. Sie selbst bezeichnet sich als »Demigirl«. Das bedeutet: Auf dem Spektrum zwischen Mann und Frau fühlt sie sich eher, aber nicht hundertprozentig der weiblichen Seite zugehörig.
Erzogen wurde sie als Junge - und dachte vor ein paar Jahren noch, sie sei transsexuell - eine Frau in einem männlichen Körper. Erst mit Ende 20 fand sie heraus, dass das nicht stimmt - weder das mit dem rein männlichen Körper noch das mit der rein weiblichen Identität.
Jeanne Riedel ist intersexuell. So werden Menschen bezeichnet, deren biologische Merkmale nicht eindeutig dem weiblichen oder männlichen Geschlecht zugeordnet werden können. Das kann mit Variationen der Chromosomen, der Keimdrüsen, der Hormonproduktion oder der äußeren Geschlechtsmerkmale zu tun haben. »Es gibt 3000 Diagnosen, die man bei Intersexualität stellen könnte«, sagt Riedel, die im Gespräch auf einen breiten Fundus an Zahlen, Statistiken und Studien zurückgreift. Seit sie ihre Diagnose bekommen hat, beschäftigt sie sich intensiv mit dem Thema und engagiert sich unter anderem als Pressesprecherin des Arbeitskreises Intersexualität der DGTI, der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität.
Früher wurde Intersexualität als »Störung der Geschlechtsentwicklung« bezeichnet. Interessenvertretungen, aber auch viele Mediziner*innen sprechen inzwischen lieber von »Varianten der Geschlechtsentwicklung« oder »Differences of Sexual Development« (DSD).
Jeanne Riedel wirft einen Blick in die Speisekarte und bestellt Frühstück. Freitags steht sie nicht schon frühmorgens in der Backstube, sondern hat frei und kann ausschlafen. Die gelernte Bäckerin und Konditorin arbeitet in einer Bio-Bäckerei in einem Münchner Vorort. Als sie dort anfing, trug sie noch einen männlichen Namen. Mit der Zeit kleidete sie sich weiblicher. Die Hosen wurden enger, die Haare länger.
Mit Ende 20 beschloss sie, ihren Namen und ihren Geschlechtseintrag ändern zu lassen. Dafür brauchte sie ärztliche Gutachten, die ihre Transsexualität bestätigten. Eine Gutachterin, die Urologin und Professorin Michaela Katzer, hatte damals die Vermutung, dass Riedel intersexuell sein könnte. Ihr waren die für einen Mann ungewöhnlich geringe Behaarung und die helle Stimme aufgefallen.
Riedel suchte Androlog*innen, Gynäkolog*innen, Endokrinolog*innen, Humangenetiker*innen und Urolog*innen auf - mit unterschiedlichen Ergebnissen. Ein Allgemeinarzt sagte, für ihn sei sie »einfach ein genital missgebildeter Mann«. Für die verschiedenen Gutachten habe sie mehrere Tausend Euro zahlen müssen, erzählt Riedel. Denn nach der aktuellen Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitszustände (ICD10) schließen sich Transsexualität und Intersexualität aus. Erst 2021 mit der neuen ICD11 werde sich das ändern.
Schließlich kam heraus: Jeanne Riedel hat eine Partielle Androgenresistenz. Das bedeutet: »Mein Körper produziert zwar männliche Geschlechtshormone, aber die werden nicht oder nicht ausreichend erkannt.« Je nachdem, wie stark die Resistenz ausgeprägt ist, werden Menschen eher als Männer oder als Frauen betrachtet. »Ich bin genau dazwischen«, erklärt Riedel.
Dieses »Dazwischen« ist die Antwort auf viele Fragen, die sie sich viele Jahre gestellt hat. Auch aus medizinischen Gründen war die Diagnose wichtig. Denn der Hormonmangel habe zu Osteoporose geführt: »Meine eigene Intersexualität zerstörte meine Knochen.«
Intersexualität kann medizinische Probleme mit sich bringen. Wie der Verein Intersexueller Menschen betont, sei jedoch die überwiegende Zahl der intersexuellen Menschen nicht per se krank oder behandlungsbedürftig. Deshalb kämpfen Interessenvertretungen gegen Operationen und medikamentöse Behandlung von intersexuellen Kindern. Jeanne Riedel kritisiert, dass diese Eingriffe tief greifende körperliche und seelische Probleme nach sich ziehen könnten. Ein im Januar 2020 veröffentlichter Gesetzentwurf des Bundesjustizministeriums will solche Operationen nun verbieten, wenn sie medizinisch nicht notwendig sind.
Jeanne Riedel hatte Glück. Wegen eines Herzfehlers wurde sie als Kind nicht operiert - im Gegensatz zu vielen anderen. Eine Studie im Auftrag der Ruhr-Universität Bochum zeigte 2019, dass die Häufigkeit der Operationen im Verhältnis zu den Diagnosen von 2005 bis 2016 nicht abgenommen hat. Die Autor*innen stellten fest, dass in diesem Zeitraum pro Jahr durchschnittlich 1871 feminisierende oder maskulinisierende chirurgische Prozeduren an Kindern unter zehn Jahren durchgeführt wurden.
Trotz der Uneindeutigkeit wuchs Jeanne Riedel als Junge auf. Ihre ersten Lebensjahre verbrachte sie im Erzgebirge. Vor der Wende flüchtete die Familie in den Westen, denn der Vater hatte Probleme - weil er illegal mit Kaffee und Dosen-Ananas gehandelt hatte, wie Riedel erzählt.
»Mit zwölf habe ich gemerkt, dass ich anders aussehe«, berichtet sie. Wenn andere sie für ein Mädchen hielten, habe ihr Vater betont: »Das ist mein Sohn.« Merkwürdig, wenn einem vermeintlichen Jungen plötzlich Brüste wachsen.
Mädchen luden sie zu Pyjama-Partys ein, Jungs hingegen waren oft aggressiv. Einmal steckten sie auf der Toilette ihren Kopf ins Klo. »Ich weiß nicht, ob sie sich in ihrer Männlichkeit bedroht fühlten«, sagt Riedel. Ihre Uneindeutig wurde mit Feindseligkeit beantwortet. »Ich habe permanent überlegt, was ich eigentlich bin«, so Riedel, die nicht wütend, sondern trocken und distanziert klingt, wenn sie von den Erlebnissen ihrer Jugend erzählt.
Mit Anfang 20 lernte sie interessante, unangepasste Leute kennen, die sich für Manga und Anime, japanische Comics und Zeichentrickfilme interessierten. Die rieten ihr, sich in der Schwulenszene umzuschauen. Seit ihrem 16. Lebensjahr wusste Riedel, dass sie bisexuell ist. »Dann aber habe ich gemerkt: Ich bin noch ein wenig anders. Da ist noch etwas Weiteres in mir selbst, das ich ergründen muss.« Sie spricht von einem diffusen Gefühl, einem »inneren Wissen um sich selbst«.
Nach ihrem Abschluss an der Berufsschule machte sie eine Lehre als Bäcker - in einem männlich dominierten Beruf. Die Konditoren galten als schwule »Tortenschmeißer«. Das fand Jeanne Riedel gut - und schloss eine Konditorenlehre an - »nur um zu merken: Das ist gar nicht so.«
Kolleg*innen registrierten ihren Transitionsprozess: andere Klamotten, andere Frisur, anderer Name. Allerdings sei sie erst vollständig als Frau akzeptiert worden, nachdem sie auch ihre Genitalien operativ hatte anpassen lassen, erzählt sie. »Interessanterweise wurde der Schalter im Kopf der Arbeitskollegen erst betätigt, als sie sich vorstellten, dass ich keinen Penis mehr habe.« Dass sie inzwischen als Frau betrachtet werde, äußere sich vor allem darin, dass sie nun genauso von oben herab behandelt werde wie andere Frauen in ihrem Beruf. »Als würde man mit seinem Penis den Teig mischen.«
Damals habe sie versucht, einem weiblichen Klischee zu entsprechen, erzählt Jeanne Riedel. Sie dachte, nur so in der Gesellschaft als Frau akzeptiert zu werden. Inzwischen hat sie sich davon gelöst. »Das gibt mir die Freiheit, so viel Frau zu sein wie ich wirklich bin, und nicht so viel, wie erwartet wird.« Im Alltag hänge es vor allem von der Stimme und der Kleidung ab, ob man als Frau oder Mann angesehen werde. »Die Leute sehen ja nicht, was für Chromosomen oder Gonaden du hast.«
Seit Ende 2018 gibt es in Deutschland für Intersexuelle die Möglichkeit, im Personenstandsregister die Option »divers« eintragen zu lassen. Einige nutzen diese Option, andere nicht. Manche identifizieren sich wie Jeanne Riedel überwiegend als weiblich, andere als männlich - und wieder andere können und wollen sich nicht in binäre Geschlechtskategorien pressen lassen. Wegen dieser Vielfalt greife der Begriff »divers« zu kurz, sagt Riedel. »Man kann nicht einfach vom dritten Geschlecht sprechen.« Eigentlich gebe es überhaupt keinen Grund, warum der Staat das Geschlecht überhaupt registriere, betont sie.
Nach einem ausgedehnten Frühstück blickt sie auf die Uhr. Bevor sie morgen früh wieder in die Backstube muss, steht noch ein Abend mit Parteikolleg*innen von den Grünen an. Riedel engagiert sich auf Bezirksebene für Inklusion und Teilhabe.
Für Intersexuelle ist es bis heute nicht einfach - weder auf gesellschaftlicher noch auf individueller Ebene. Ihr Vater habe bedauert, keinen Sohn mehr zu haben, erzählt Riedel. Für ihre Mutter sei es einfacher gewesen, den Prozess zu akzeptieren. »Sie hat aber mal gesagt, sie hätte gerne normale Kinder. Dabei ist sie mir noch schuldig zu sagen, was eigentlich normal ist.«
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