Der perfekte Sturm

In den USA droht die Corona-Pandemie zum Nationalfeiertag außer Kontrolle zu geraten.

  • Moritz Wichmann
  • Lesedauer: 5 Min.

50 000 neue Fälle waren es am Mittwoch, am Freitag davor wurde die Marke von insgesamt 2,5 Millionen Fällen überschritten. Seit Tagen schon gibt es immer neue Coronavirus-Negativrekordzahlen aus den Vereinigten Staaten; die Kurve der Neuinfektionen ist steil nach oben geschnellt und über den bisherigen Höhepunkt Ende April hinausgewachsen. Wie sehr das Land mittlerweile mit multiplen Massenausbrüchen zu kämpfen hat, zeigt auch diese Zahl: 130 Landkreise gelten als Coronavirus-Hotspots.

Vor allem im republikanisch regierten Süden in Florida und Texas etwa, aber auch in Kalifornien sind die Fallzahlen in den vergangenen Tagen stark gestiegen. Der Sieben-Millionen-Einwohner-Staat Arizona hat mittlerweile genauso viele Covid-19-Neufälle wie die Europäische Union mit ihren 446 Millionen Einwohnern. Besonders im Süden gab es in den vergangenen Wochen – unter anderem wegen des Drucks aus dem Weißen Haus und vonseiten der Republikanerbasis – verfrühte Lockerungen.

Relativ gut sieht es nur im früh von der Pandemie betroffenen New York und den umliegenden Neuengland-Staaten im Nordosten der USA aus. Dort werden die Kriterien der US-Bundesbehörde Centers for Desease Control and Prevention erfüllt. Die empfiehlt als Bedingung für Lockerungen von Covid-19 Einschränkungen: Seit mindestens zwei Wochen sinkende Fallzahlen, eine tägliche Neufallzahl von weniger als vier Fällen pro 100.000 Einwohner, ferner mindestens 150 Covid-19 Tests für die gleiche Zahl Einwohner pro Tag, eine Positivtestrate von unter fünf Prozent und eine Auslastung von Intensivbetten von weniger als 60 Prozent. Laut dem Nachrichtenportal vox.com erfüllen derzeit nur New York und Rhode Island vier oder fünf der Kriterien, wie etwa die zweiwöchige Fallzahlreduzierung und 60 Prozent Intensivbettenkapazität – 27 Staaten hingegen nur eine oder gar null.

Angesichts der grassierenden Pandemie tritt das Land kollektiv auf die Bremse. Stand Donnerstagmittag haben laut einer CNN-Zählung 23 Staaten eigentlich geplante Schritte zur Aufhebung von Coronaviruseinschränkungen verschoben oder gar neue Restriktionen verhängt. In Texas etwa wurden wieder Bars geschlossen, in mehreren Landkreisen in Kalifornien Strände. Viele Gouverneure der Republikaner wandeln in ihren Ankündigungen dazu auf einem rhetorisch schmalen Grat – wollen sie doch Trump nicht verärgern.

Auch die Amerikaner selber praktizieren wieder mehr Social Distancing. Laut Daten des Reservierungsservice OpenTables essen aktuell wieder viele Menschen im Land zu Hause. In den vergangenen Wochen hingegen hatte sich eine steigende Anzahl von Amerikanern wieder in Restaurants gewagt.

Dabei steht das Land eigentlich vor einem Partywochenende. Normalerweise wird am Nationalfeiertag am 4. Juli überall in den Vereinigten Staaten ausgiebig mit Feuerwerk und viel Alkohol die Unabhängigkeit von Großbritannien gefeiert. »Feiertagsreisen, verfrühte Öffnungen und Nichtbefolgung von Vorsichtsmaßnamen: All das ist wirklich der perfekte Sturm«, erklärte Dr. Joshua Barocas. Der Seuchenexperte des Boston Medical Center befürchtet deswegen einen weiteren Anstieg der Fälle in den nächsten Tagen.

Im Land hat sich ein regelrechter Kulturkampf um das Tragen von Gesichtsmasken entwickelt. Ähnlich wie in Deutschland verlangen viele Supermärkte in den USA dies mittlerweile. Immer wieder kursierten virale Videos im Internet. Zu sehen: Weiße und offenbar privilegierte Frauen und Männern, die den Anweisungen des Supermarktpersonals nicht Folge leisten wollten und mit dem Rufen von Polizei drohten, die ausfallend und handgreiflich wurden, nach dem ihnen der Zutritt verweigert wurde.

Der Anführer der US-amerikanischen Rechten bestärkt seine Fußtruppen indirekt, trägt demonstrativ keine Maske. US-Präsident Donald Trump hat sich vielmehr mehrfach über Gesichtsmasken und deren Träger lustig gemacht, wie etwa Demokraten-Präsidentschaftskandidat Joe Biden. Der wiederum hat sich öffentlich für verpflichtendes Maskentragen ausgesprochen. Sein Ex-Konkurrent Bernie Sanders will, dass das US-Militär Hunderte Millionen Masken produziert und jedem Bürger monatlich fünf Exemplare zukommen lässt.

Weil im Flächenland USA in den ersten Pandemie-Monaten vor allem liberale Großstädte wie Seattle und New York betroffen waren, spielte das Coronavirus im Alltagsleben vieler Amerikaner im »Heartland« lange Zeit anders, als in dem der New Yorker, die sich immer noch mit Schauern an das ständige Sirenengeheul der Krankenwagen zu Hochzeiten der Pandemie erinnern, lange Zeit keine Rolle. Rechte Kommentatoren auf Social Media erklärten gar, die dichte Bebauung in New York sei offenbar Grund für die scheinbar stärkere Verbreitung des Virus und die Überlegenheit des konservativen Landlebens. Nun hat sich Covid-19 ins Landesinnere ausgebreitet.

Lange Zeit zeigten Umfragen weniger starke Corona-Besorgnis bei Republikaner-Wählern. Nun schließt sich diese Wahrnehmungslücke, und US-Präsident gerät beim Thema Masken auch in seiner eigenen Partei unter Druck. Liz Cheney, Republikaner-Abgeordnete aus Wyoming etwa twitterte ein Foto ihres Vaters – Ex-Vize-Präsident unter George W. Bush – mit den Worten: »Dick Cheney sagt, tragt Masken«. Versehen war das mit dem Ausspruch »Echte Männer tragen Masken« – Ausdruck davon, wie sehr Masken unter US-Rechten derzeit (noch) als unmännliche Schwäche gesehen werden.

Trump selber behauptet nun etwas defensiv, er habe »kein Problem mit Masken«, würde das Problem aber gerne ignorieren. »Ich glaube, es wird irgendwann einfach verschwinden, das hoffe ich zumindest«, so Trump gegenüber Fox News. Er will am Nationalfeiertag einen großen Auftritt hinlegen, wird bei einer Feier vor dem berühmten Felsenrelief Mount Rushmore in South Dakota auftreten. Coronavirus-Schutzmaßnahmen wie etwa solche zum Social-Distancing sind nicht geplant.

Unterdessen steigt die Zahl schwerer im Krankenhaus behandelter Covdid-19 Patienten in derzeit 12 Staaten - und das schnell. Einige Krankenhäuser in Texas etwa haben die Kapazitätsgrenze bereits erreicht oder sind kurz davor. Greg Abbott, Gouverneur des Lone Star State, vollführte deswegen am Freitagmorgen eine 180-Grad-Wendung und machte per Verordnung das Tragen von Schutzmasken in den meisten Landkreisen im Staat zur Pflicht. In der Vergangenheit hatte er dies lokalen Behörden explizit verboten.

Nicht verantwortlich für den starken Anstieg der Coronavirus-Zahlen sind übrigens die über 1400 Black-Lives-Matter-Demonstrationen, die es vor zwei bis drei Wochen - etwa die Inkubationsdauer des Virus - überall in den USA gab. Das zeigen Datenanalysen von Wissenschaftlern die keinen späteren Anstieg der Fallzahlen an Orten mit Protesten feststellten. Besonders ausdauernde Protest gab es etwa in New York City – dort liegen die Neufallzahlen aktuell weiterhin niedrig. Zwei mögliche Gründe dafür: Vielerorts wurde relativ diszipliniert Masken getragen, zudem fanden die Proteste im Freien statt.

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