Erzähler wider Willen
Projekt eines Berliner Verlages soll jungen Menschen die Faszination des Handwerks vermitteln
Die Glasbläserei hat Rolf Bätz nie losgelassen. Schon sein Vater war Glasapparatefeinschleifer. »Und für mich stand schon früh fest, dass ich in seine Fußstapfen treten würde«, erzählt er. Geboren 1948 in Stützerbach, begann er seine Lehre 1964 in der Berufsschule in Ilmenau. »Dort lernte ich, dass Lehrjahre keine Herrenjahre sind! Es war eine harte Zeit.« Auch danach hatte die Arbeit als Glasbläser ihre Tücken. So sehr, dass er 1974 seinen Beruf erst einmal aufgab. Er wurde Kraftfahrer in den Diensten des DDR-Ministeriums des Innern und war in Suhl eingesetzt. »Bis zur Wende blieb ich dort«, sagt Bätz. Doch wer einmal Glasbläser ist …
Es sind Geschichten wie die von Bätz, die im Rahmen eines Projektes gesammelt worden sind, das den Titel »Handwerk erzählt - Zwischen Tradition und Zukunft« trägt. Es ist mehr als der Versuch, vor allem jungen Menschen die Faszination der Arbeit mit den Händen nahezubringen. In Zeiten des Fachkräftemangels ist das ein zentrales Motiv für dieses Projekt, das vom Bundeswirtschaftsministerium gefördert worden ist; denn daran, dass heute deutlich weniger junge Menschen von der Schule abgehen und eine Lehre machen wollen als vor 20 oder 30 Jahren, hat sich auch durch die Coronakrise nichts geändert. Das aber ist das Kernproblem des Fachkräftemangels. Dass wie Handwerksvertreter seit Jahren klagen, immer mehr junge Menschen zum Studium gingen, verschärft die oft katastrophale Nachwuchssituation in Handwerksbetrieben zusätzlich.
Doch dieses Erzählprojekt - verantwortet vom in Berlin ansässigen Verlag Rohnstock Biografien - hilft jenseits dessen, die Lebensgeschichten von Handwerkern festzuhalten, die die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten und von dieser Zeit geprägt wurden; mit all den Vor- und Nachteilen, die diese Art des Erinnerns mit sich bringt: Es sind persönliche und damit in der Regel lebendige Geschichte von Menschen, die geschildert werden - wobei die Menschen durch ihre Erzählungen ihrem eigenen Leben Sinn und Struktur geben und deshalb dazu neigen, Dinge zu verklären; selbst wenn sie Probleme ansprechen. In der Geschichtswissenschaft sind diese Phänomene nur allzu bekannt.
Am Ende des Projektes sollen zehn Broschüren entstanden sein, in denen die Geschichten von Handwerkern wie Bätz niedergeschrieben sind; Lebensgeschichten, die sich maßgeblich in je fünf thüringischen und sächsischen Regionen abgespielt haben - so im Altenburger Land und im Thüringer Wald sowie in Chemnitz und im Erzgebirge.
Diejenigen, die wie Katrin Rohnstock - Geschäftsführerin des Verlages - oder Janin Pisarek - Regionalmanagerin des Verlages für das Projekt - viele der Handwerker ihre Geschichten haben erzählen hören, sind fasziniert von dem, was ihnen diese Menschen berichtet haben: Davon etwa, wie ein Handwerker während seiner Wanderjahre um die halbe Welt gereist ist; zum Beispiel, um Dächer zu decken - was er gelernt hatte - und nebenbei Klaviere zu bauen und zu stimmen - was er nicht gelernt hatte. Oder davon, welch tiefe, die Zeit überdauernde Zuneigung mancher Handwerker zu seinem Beruf hat.
Wie Glasbläser Bätz, der sich viele Jahre als Kraftfahrer verdingte. »Nach 1990 machte ich mich als Glasgerätehersteller selbstständig und bin es bis heute«, erzählt er. Das sei aber nur möglich, weil ihn seine Frau so sehr unterstütze. »Verständnisvoll akzeptierte sie, dass ich oft auch am Wochenende arbeitete und nur wenig Freizeit für uns beide übrig blieb.« Noch heute schreibe sie seine Rechnungen »und zählt das Geld«. In den Erzählungen geht es immer auch um die Bedingungen, die diese Art von Arbeit erst möglich machen.
Entstanden sind die Geschichten mit Hilfe eines Formats, das Rohnstock den Erzählsalon nennt. Die Bezeichnung deutet ziemlich präzise an, worum es dabei geht: Menschen treffen sich in einer möglichst angenehmen Atmosphäre und erzählen aus ihrem Leben. Geleitet wird der Erzählsalon von einer Salonnière oder einem Salonnier, die vor allem eine Aufgabe haben: Menschen zum Erzählen anregen. Anders als für den Moderator einer Talkshow oder Podiumsdiskussion gehe es nicht darum, dass sie ein Gespräch lenken, sagt Rohnstock. Anders als bei einer Moderation nehme sich die Salonnière oder der Salonnier sehr zurück, wenn jemand seine Geschichte erzähle - und greife nur dann ein, wenn der Erzähler den Faden verloren habe. »Bei einem Erzählsalon ist jeder gleichberechtigt«, sagt Rohnstock.
Selbst die Entscheidung darüber, ob ein Erzählsalon beim Erreichen der vorher festgelegten Zeitgrenze fortgesetzt wird, weil jemand so lange gesprochen hat, dass nicht alle zu Wort gekommen sind, dürfe die Salonnière oder der Salonnier nicht allein treffen. »Die Festlegung auf eine Redezeit ist eine Vereinbarung«, sagt Rohnstock. Die könne niemand ohne die Zustimmung der übrigen ändern. Deshalb müsse die Leiterin oder der Leiter eines Erzählsalons die anderen Teilnehmer fragen, ob sie trotz der fortgeschrittenen Zeit noch weitere Geschichten hören wollten.
Es hat sich bewährt, dieses Format zu nutzen, um diese Menschen dazu anzuregen, von sich zu erzählen. Denn, das hat auch Pisarek erfahren, so gut viele Handwerker auch mit den Händen sind; das Geschichtenerzählen ist etwas, von dem viele von ihnen jedenfalls glaubten, es nicht gut zu können.
Oft sei es alles andere als leicht gewesen, Handwerker zu finden, die aus ihrem Leben und von ihrem Beruf hätten berichten wollen, sagt Pisarek. »Es hat vielen an Selbstbewusstsein gefehlt.« Oft hätten sie gefragt, was sie denn erzählten sollten - in der Annahme, in ihrem Leben nichts Interessantes erlebt zu haben, das andere Menschen gerne hören wollen. »In jedem einzelnen Fall aber haben die Handwerker das ganze Gegenteil bewiesen«, sagt Pisarek.
Besonders ein Fall aus dem Schwarzatal ist Rohnstock da in Erinnerung: Zu einem Erzählsalon in einem kleinen Ort sei die Familie eines Handwerkers mitgekommen - und habe fasziniert an den Lippen des Mannes gehangen, der aus seiner Jugend und Ausbildung und aus der Zeit als Geselle erzählte. Manches davon hätten seine Angehörigen nie zuvor gehört und nicht gewusst.
Dafür, dass Bätz die Glasbläserei bis heute nicht losgelassen hat, spricht auch, was er sich für die Zukunft vorgenommen hat und wovon er erzählt hat: »Ich habe vor, noch eine Weile weiterzuarbeiten und mir mit den Glasapparaten Geld zur schmalen Rente dazuzuverdienen«, sagt er. Auch wenn er die Sache insgesamt heute geruhsamer als früher angehe. »Ich fange nicht vor neun Uhr vormittags an und sitze am Wochenende höchstens bei schlechtem Wetter in der Werkstatt«, sagt er. Nur wenn er einen Termin halten müsse, könne er sich »diesen Luxus« nicht leisten. Sein Vorsatz für die nächsten Jahre: »Solange meine Hände nicht zittern und mein Kopf klar ist, bleibe ich Glasbläser.«
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