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Ich bin Bill Gates
Die endgültige Antwort auf die Frage, wer denn nun von der Pandemie profitiere, lautet: Ich.
Was haben die ganzen Verschwörungsideologen eigentlich gegen Bill Gates? Wieso soll ausgerechnet er derjenige sein, der von der Pandemie profitiert wie kein anderer? Folgt man den Aluhutträgern um Ken Jebsen & Co. haben Bill und Melinda Gates persönlich dafür gesorgt, dass das Virus aus dem chinesischen Labor entweicht, damit sie die Welt anschließend mit ihrem Impfstoff retten können und der Weltherrschaft einen weiteren Schritt näherkommen, denn die WHO haben sie ja bereits übernommen. Wobei ich es ziemlich dumm fände bei einem so ausgeklügelten Bösewichtplan, das Virus erst freizusetzen und danach anzufangen, den Impfstoff zu entwickeln. Ich würd’s umgekehrt machen, aber ich bin, zugegeben, auch Laie in Sachen Weltherrschaftsübernahme. Die Experten, die sich auf den »Hygiene-Demonstrationen« versammeln, werden dazu sicherlich auch schon eine schlüssige Antwort unter ihren Aluhüten ausgebrütet haben. Jedenfalls sind sie schweinereich, Bill und Melinda, und wer mit Geld etwas anstellt, muss natürlich etwas im Schilde führen. Da sind sie sich einig, von Quer bis Front, da sei Bill Gates quasi Jude im Geiste, der Katholizismus nur vorgetäuscht und ja eigentlich auch nicht besser. So in etwa die Verschwörungstheorien.
Dabei hat Bill Gates’ Nachbar am Lake Washington in Seattle, Jeff Bezos, sicherlich viel mehr Kohle mit Corona gemacht. Oder die Eigentümer von Paket- und Bringdiensten. Lieferando!
Und Schutzmaskenhersteller, jaja. Banken, die dem Staat eine Billion Kredit geben, das machen die ja auch nicht aus karitativen Gründen: »Hier, Herr Scholz, nehm’ Se mal, hatten wir noch rumliegen von den Herren Gates und Bezos, die brauchen’s grad nicht, geben Se uns ma’ zurück bei Gelegenheit, wenn’s passt, gell?« Der Krankenhausausstatter Fresenius: riesiges Umsatzplus, Aktien im Aufwind.
Wüsste ich, wie man an der Börse spekuliert, hätte ich am 11. März mein Vermögen in Aktien von Plexiglasherstellern angelegt. Acryl ist das neue Gold. Ich könnte heute meine Villa am Lake Washington beziehen. Vorausgesetzt, ich dürfte in die USA einreisen. Aber wenn, könnte ich Bill aus meiner Quarantäne mal zuwinken.
Einen Teil meines Vermögens hätte ich in Süßwaren angelegt. Umsatzplus von 20 Prozent seit Beginn des Lockdowns, habe ich gelesen. Klar, die Kleinen müssen ohne Kita ja irgendwie ruhiggestellt werden. Und so ist zugleich gewährleistet, dass auch die notleidenden Zahnärzte nach Ende des Lockdowns wieder genug zu tun haben. Aber das interessiert mich nicht, ich bin mütterlicherseits Enkel eines Bonbonkochers und komme aus einem Ort, der einen der größten Süßwarenhersteller Deutschlands beherbergt. Alle Vitamine meiner Adoleszenz habe ich mit »Nimm 2« aufgenommen.
Wenn ich es also geschickt angepackt hätte, könnte ich bei dieser Pandemie schon jetzt auf der Gewinnerseite stehen.
Ich bin überzeugt, die eigentlichen Gewinner der Pandemie sind nicht Bill und Melinda Gates, sondern die, die niemand auf dem Schirm hat, die heimlichen Nutznießer im Verborgenen. Wie ich schon lange einer bin.
Ich muss dazu etwas ausholen: Es war einmal vor langer, langer Zeit. Am 20. August 1919 traten Friederike Wilhelmine Marie Surmann, geborene Wesselmann, und ihr Gatte Wilhelm Heinrich August Surmann aus Bielefeld-Vilsendorf in den heiligen Stand der Ehe. Mit diesem Tag endete die jahrhundertlange Geschichte des Hofes Dücker in der westfälischen Gemarkung Ascheloh. Es begann die Geschichte des Hofes Surmann. Über Jahrhunderte zuvor war der Hof mit der Nummer 7 - so lautete auch bis in die 60er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein die offizielle Postanschrift -, in den Landkarten mit dem Namen »Dücker« verzeichnet. So fest waren die Besitzungen in Händen der Familien, dass man sich in offiziellen Landkarten gar nicht erst mit Hausnummern aufhielt, sondern gleich Familiennamen an die Hofstellen schrieb.
Die Geschichte des Hofes Surmann ist eine Geschichte voller Viren. Das erste Virus traf am 5. Dezember 1902 den Bauern Heinrich Wilhelm Dücker. Er verstarb mit nur 45 Jahren an einer Polio-Infektion, und seine Frau Johanna Marie Elise verblieb allein auf dem Hof. Das Paar war bis dato kinderlos geblieben. Da es sich nicht schickte in dieser Zeit, als Frau allein einen Bauernhof zu führen, heiratete sie wieder. So kam, drei Monate nach Ablauf des Trauerjahres, am 12. Februar 1904 Herrmann Eduard Eickhoff auf den Hof Dücker, der nun in den Landkarten als »Hof Eickhoff« hätte verzeichnet werden müssen. Eine der ersten Amtshandlungen des frisch Eingeheirateten war der Bau einer völlig überdimensionierten Scheune, die die Familie beinahe in den Ruin gestürzt hätte und viele am Bau beteiligte Handwerker ob unbezahlter Rechnungen noch jahrelang fluchen ließ und noch heute meinen Vater ob der horrenden Feuerversicherungsprämien. Womöglich hätte ein Flurkartenzeichner jener Tage Hof »Die mit der dicksten Scheune« geschrieben. Immerhin, nach »Scheune bauen« stand »Kind machen« auf der Bucketlist der Eheleute Eickhoff. Allerdings war Johanna Marie Elise Eickhoff, vormals Dücker, schon 44 Jahre alt. Ein Hoferbe wurde überraschenderweise nicht geboren, doch sie holten ein junges Mädchen namens Helene Olga Winkelmann auf den Hof, geboren 1901 in Altenessen. Mein Vater berichtet von einer Adoption, die es gegeben haben soll, doch deren Spuren verlieren sich im Grau der Geschichte. Zumal nun schon das zweite Virus zuschlug. »A/H1N1« wanderte auf seinem Weg von den Schützengräben im Franzosenland in die Hauptstadt des Deutschen Reiches am Teutoburger Wald vorbei, kehrte in Ascheloh auf dem Hofe mit der Nummer 7 ein, und am 10. Oktober 1918 verstarb Eduard Eickhoff mit nur 47 Jahren an der Grippe, knappe sechs Wochen später folgte die junge Helene Olga mit bloß 17 Jahren. Das Sterberegister der Kirchengemeinde weiß nichts von einer Adoption, sie starb als »als Magd tätig« auf dem Hofe Eickhoff. Die Zukunft des Hofes war ausgelöscht. Die Spanische Grippe wütete sich durch die Bauernschaft, auf dem Nachbarhof Ascheloh Nr. 8, Meyer zu Bentrup genannt Kleine Buthenut, raffte es binnen sechs Tagen drei Familienmitglieder zwischen 24 und 36 Jahren dahin. Allein Johanna Marie Elise, geborene Niemann, verwitwete Dücker, verwitwete Eickhoff, überlebte die Grippe, hatte die Nase voll und die Menopause hinter sich. Sie brauchte Hilfe und beschloss, eine ihre unverheirateten Nichten auf den Hof zu holen. Es heißt, es hätte ein regelrechtes Nichten-Casting gegeben, und Johannas Wahl sei bewusst auf das stille und fleißige Mädchen Marie Wesselmann gefallen, weil sie Ruhe auf den Hof bringen wollte. Offensichtlich war ihr frisch verschiedener Gatte eher ein Unruhestifter, ein Großkotz mit dem Ego eines Scheunentores einer viel zu großen Scheune.
So zog meine Großmutter, Marie Wesselmann auf den Hof Eickhoff, vormals Dücker, postalisch: Ascheloh Nummer 7. Etwas weniger als ein Jahr lang war der Hof nun in der Hand zweier Frauen, unterstützt bloß von einem 90-jährigen Heuerling, das Matriarchat zog ein, misstrauisch von der Nachbarschaft beäugt und neidisch von den Cousinen meiner Oma, die beim Nichten-Casting leer ausgegangen waren. Niemand weiß in unserer Familie zu sagen, wie und wann die 22 Jahre junge Marie ihren Gatten kennenlernte. Ich stelle mir vor, wie sie über Monate hinweg eine der begehrtesten Junggesellinnen der Bauernschaft war, denn wer sie ehelichte, käme zugleich an einen großen Bauernhof mit geiler neuer Scheune! Die unverheirateten und nicht erbberechtigten Söhne müssen Schlange gestanden haben, doch in unserer Familiengeschichte ist nichts überliefert über die erste Staffel der Castingshow »Frau sucht Bauer« mit der jungen Marie in der Hauptrolle. Dafür, dass die Herren Schlange standen, spricht, dass es am Ende ein knapp 30-jähriger Bauerssohn aus dem weit entlegenen, also knapp 14 Kilometer entfernten Vilsendorf war, der Herz und Hof der teutonischen Bachelorette eroberte. Am 20. August des Jahres 1919, nicht mal ein Jahr nach dem Grippetod des Hoferben, ehelichte Marie Wesselmann ihren Gatten Wilhelm Surmann. Das zehnmonatige Matriarchat auf dem Hof war zu Ende, die Surmann-Dynastie auf Gemarkung Ascheloh Nummer 7 hatte begonnen. Marie Surmann gebar sechs Söhne, den jüngsten - den Hoferben - als überraschenden Nachzügler im schwangerschaftlich hoch gewagten Alter von 47 Jahren: meinen Vater. 1972 heiratete dieser die Tochter eines Bonbonkochers, noch im selben Jahr wurde ich geboren.
Und wenn es nun eine Antwort auf die Frage gibt, wer von einer Pandemie profitiert, dann ist es diese: Ich.
Ich verdanke meine Existenz der Spanischen Grippe. In der derzeit beliebten Serie »Dark« könnte jemand zurückreisen ins Jahr 1918, den frisch an Grippe Erkrankten ein paar Tamiflu verabreichen, sie überlebten, und ich wäre nie geboren worden.
Ich habe meine Existenz der Spanischen Grippe zu verdanken. Ich bin Gewinner der Pandemie. Ich bin Bill Gates.
Oder nehmen wir Frederick Trump, geboren als Friedrich Trump im pfälzischen Kallstadt, 1885 mit 16 Jahren in die USA emigriert. Er befand sich 1918 gerade auf einem Spaziergang mit seinem Sohn Fred Jr. im New Yorker Stadtteil Queens, als er sich plötzlich unwohl fühlte und einen Tag später verstarb. Was, wenn die beiden sich gerade gestritten hatten und Frederick Senior seinen unverständigen Sohn gleich am nächsten Tag enterben wollte und nur die Grippe schneller war? Was, wenn Frederick Trump die Grippe überlebt und sich später verspekuliert hätte und die Familie in Armut gestorben wäre? Sicher ist nur eins: Die Geschichte kam, wie sie kam, und Donald Trump ist, wer er ist, weil Frederick Trump Senior am 30. Mai 1918 an den Folgen der Spanischen Grippe starb. Donald Trump ist, wenn man so will, ein Pandemiegewinner.
Donald Trump ist Bill Gates.
Ich bin Bill Gates.
Ich bin Donald Tr… nein, irgendwo hat jede Pandemie auch ein Ende.
Fredrick Trump Senior machte im Übrigen sein erstes Geld mit einem gut laufenden Restaurant in Seattle. Na, klingelt’s? Wo lebt Bill Gates? Und mein Großvater stammte aus dem heutigen Bielefeld, das auch in keiner anständigen Verschwörungstheorie fehlen darf. Wie hängt das alles zusammen? Ich glaube, Ken Jebsen hat noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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