Sand in den Haaren

Die Coronakrise hat die afrikanische Adaption von Pina Bauschs »Frühlingsopfer« ausgebremst. Immerhin blieb ein beeindruckender Tanzfilm übrig.

  • Falk Schreiber
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist ein Schlüsselwerk des zeitgenössischen Balletts: Igor Strawinskys 1913 entstandene Komposition »Le Sacre du Printemps« hat praktisch alle wichtigen Choreograf*innen der vergangenen hundert Jahre beeinflusst, von Mary Wigman über Maurice Béjart und Mats Ek bis zu Mario Schröder. Als sich Pina Bausch 1975 des Stoffes annahm, hatte die damals 35-Jährige schon erste Erfolge als Leiterin des Essener Folkwang-Studios zu verzeichnen; zwei Jahre zuvor hatte sie die Tanzsparte der Wuppertaler Bühnen übernommen. Und doch entwickelte sich »Das Frühlingsopfer« zum ersten Welterfolg der Choreografin, zur Basis für spätere, ikonografische Stücke wie »Kontakthof« (1978) oder »Nelken« (1982). Bauschs »Frühlingsopfer« trieb dem Tanz alle falsche Anmut aus, war körperlich, rau, schwitzend, ein Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit des Daseins. Man lehnt sich nicht weit aus dem Fenster, wenn man sagt: Nach Strawinskys Komposition war die Ballettmusik nicht mehr, was sie zuvor war - nach Bauschs Choreografie war der Tanz nicht mehr, was er zuvor war.

Nach dem Tod Pina Bauschs 2009 konzentrierte sich die Wuppertaler Compagnie darauf, das künstlerische Erbe der Jahrhundertchoreografin zu verwalten (dass dies mal besser, öfter aber schlechter gelingt, steht auf einem anderen Blatt). Und zur Verwaltung dieses Erbes gehört auch, eine Arbeit wie »Das Frühlingsopfer« immer wieder neu einzustudieren, zu hinterfragen, zu pflegen. Ein aktueller Versuch, die Produktion in die Gegenwart zu holen, ist eine Koproduktion zwischen Pina Bausch Foundation, der senegalesischen École des Sables und dem Londoner Tanzhaus Sadler’s Wells: ein von afrikanischen Tänzer*innen neu einstudiertes »Frühlingsopfer«, gekoppelt mit der Uraufführung von »Common Ground(s)« der École-des-Sables-Gründerin Germaine Acogny und Malou Airaudo. Premiere wäre im März dieses Jahres in Dakar gewesen, allein: Wenige Tage zuvor wurden auch in Senegal alle Theateraufführungen im Zuge der weltweiten Corona-Pandemie abgesagt.

Angeblich hätte die Compagnie entschieden, nach dem erzwungenen Probenabbruch noch einen letzten Durchlauf zu starten, an einem Strandabschnitt in unmittelbarer Nähe der École des Sables. Das mag ein Stück weit eine Legende sein, jedenfalls wurde dieser allerletzte »Frühlingsopfer«-Durchlauf gefilmt, von Florian Heinzen-Ziob (Regie und Schnitt) und Enno Endlicher (Kamera). Und hier wird man skeptisch: Das Ergebnis ist nämlich keine abgefilmte, halb improvisierte Probe im Freien, es ist ein durchkomponierter Tanzfilm namens »Dancing at Dusk«, in dem Endlichers Kamera einen ganz klar abgestimmten Fokus setzt. Dieser Fokus ist stimmig, er weiß genau, wann welche Protagonist*innen ins Bild gehören. Aber er hat nichts zu tun mit dem erwarteten »Wir fangen jetzt an, halt einfach mal drauf«, das die Legende um den letzten Durchlauf vor der Auflösung der Gruppe behauptet. Als Journalist wird man von der Pina Bausch Foundation gebeten, das Ergebnis »im Kontext einer Probe zu betrachten« und auf eine Rezension zu verzichten, nur: Das, was hier zu sehen ist, ist keine Probe, es ist ein durchaus eigenständiges Kunstwerk.

Der Strand ist leer, die Dämmerung senkt sich über den träge schwappenden Ozean. Im Hintergrund ist ein Fuhrwerk zu sehen, kurz schwenkt die Kamera über ein paar Baracken am Bildrand, ansonsten ist die Bühne zurückhaltend im Sand markiert. 32 Tänzer*innen aus ganz Afrika, von Madagaskar bis nach Nigeria, beginnen sich zu den noch fragmentarischen Strawinsky-Klängen zu bewegen; ein Tasten, ein Kriechen zunächst, Sand in den Haaren, Sand an den Fußsohlen. Der Mensch ist in diesem Strandtanz eins mit der Natur, beziehungsweise: Der Tanz verbindet sich mit dem Untergrund, da leuchtet die Übertragung der Bausch-Choreografie an den senegalesischen Strand sofort ein. Zumal das Ensemble zwar nicht die uhrwerkhafte Genauigkeit anderer Bausch-Interpret*innen in den Massenszenen mitbringt, in den (für »Das Frühlingsopfer« wichtigen) Soli aber Leidenschaft und Mut zur Selbstentäußerung beweist. Gloria Ugwarelojo Biachi ist als sich am Ende in die Opferrolle fügende Frau eine Wucht - wütend, aufopferungsvoll, resigniert.

Wobei man gerade an Biachis Performance auch festmachen kann, dass nicht alles an »Das Frühlingsopfer« gut gealtert ist. Das Frauenbild etwa mag 1975 noch als Kritik an einer männerdominierten Welt funktioniert haben; heute hat der Rückgriff auf das Opfermotiv einen verstörenden Zug ins Reaktionäre, insbesondere weil die Protagonistin diese Rolle schließlich selbst annimmt. Und auch auf der Motivebene tauchen Irritationen auf: das rote, durchscheinende Kleid, das Biachi streckenweise trägt, legt eine eigenartig altbackene Sexualmoral über das Stück, das eine triebhafte Maskulinität konstruiert, die als Höhepunkt die weibliche freie Sexualität ausmerzt. Die Gendertheorie ist mittlerweile deutlich weiter als diese sehr den Geist des 70er-Jahre-Feminismus atmenden Bilder. Und im Übrigen auch ein Choreograf wie der Oldenburger Tanzchef Antoine Jully, der voriges Jahr eine eigene »Sacre«-Variante zeigte, die künstlerisch gar nicht versuchte, mit Bausch Schritt zu halten, inhaltlich aber die verschwiemelte Aufopferungsmoral am Ende vermied und in ein überraschend emanzipatives Setting mündete.

Gleichwohl: Als Dokument ist »Dancing at Dusk« ein Gewinn, weil sich der knapp 40-minütige Film nicht um die problematischen Aspekte von Bauschs Ästhetik drückt, sondern sie in einen Kontext stellt. Und dieser Kontext ist ein Sandgeviert, irgendwo an einem Strand zwischen Dakar, London und Wuppertal. Dieser Kontext verweist auf ein europäisches Tanztheater, das Bezug nimmt auf präeuropäische Fruchtbarkeitsmythen und das mit diesen Mythen auf das Afrika der Gegenwart trifft. Und er greift zurück auf die Musik eines russischen Komponisten, uraufgeführt 1913 in Paris, geprägt von slawischen Volksweisen.

Diese Kontextverklumpung jedenfalls wird im Sommer 2020 als Theater ausgebremst durch eine weltweite Pandemie und wandert ins Internet, wo sie als Tanzfilm-Stream global zugänglich ist. Und insgesamt ist das so schön und klug und verwickelt - man könnte fast meinen, es sei alles von Anfang an so geplant gewesen.

»Dancing at Dusk - A Moment with Pina Bausch’s ›The Rite of Spring‹« ist bis zum 31. Juli auf der Sadler’s Wells Digital Stage unter www.sadlerswells.com zu sehen.

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