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Tricksen und Täuschen
Im Falle des neuartigen Coronavirus stellt das Immunsystem die Forschung vor etliche Rätsel
Das menschliche Immunsystem ist lernfähig, es kann mit seinen diversen Bestandteilen auf neue, gefährliche Erreger reagieren. Das macht Hoffnung, dass diese Mechanismen auch im Fall des neuartigen Coronavirus verstanden werden und dass sich auf dieser Basis sowohl Medikamente als auch Impfungen entwickeln lassen. Doch bis dahin scheint der Weg noch sehr weit, und die bisherigen Erkenntnisse werfen teils neue Fragen auf. Viele der Untersuchungen und Ergebnisse beziehen sich nur auf jeweils sehr kleine Patientengruppen und stammen aus Vorabveröffentlichungen ohne weitere wissenschaftliche Prüfung. Das heißt, bis zu allgemein gültigen Ergebnissen wird es noch eine Weile dauern.
Mehrere Forscher von deutschen Hochschulen und Instituten fanden zum Beispiel Indizien dafür, dass es bei schweren Krankheitsverläufen nicht allein zu einer starken Immunreaktion kommt, sondern dass diese in einer Dauerschleife von Aktivierung und Hemmung gefangen ist. In Blutproben von 53 Patienten aus Berlin und Bonn wurden bei schwer Erkrankten aktivierte Neutrophile (die häufigsten weißen Blutkörperchen) und Monozyten (die Vorläufer von Makrophagen, den Fresszellen) gefunden. Diese Immunzellen wurden früh mobilisiert, und eigentlich sollten sie den Rest des Immunsystems in Gang setzen. Sie waren aber zugleich oft unreif oder in ihrer Funktion gestört. Damit wirkten sie hemmend auf die Immunreaktion. »Es spricht vieles dafür, dass sich das Immunsystem bei schweren Covid-19-Verläufen gewissermaßen selbst im Weg steht«, erklärte Leif Erik Sander von der am Projekt beteiligten Berliner Charité. Damit erklären sich die Forscher, dass es trotz einer Immunantwort gleichzeitig starke Entzündungen im Lungengewebe gibt. Die dysfunktionalen Zellen müssten also unterdrückt oder umprogrammiert werden. Lernen könnte man dabei vermutlich aus der Krebsforschung, die mit ähnlichen Mechanismen umzugehen hat. Veröffentlicht wurde der Bericht vor wenigen Tagen im Wissenschaftsjournal »Cell«.
T-Lymphozyten oder T-Zellen gehören zu den weißen Blutzellen, die der Immunabwehr dienen. T steht für den Thymus, ein Gewebe hinter dem Brustbein, das zum Lymphsystem gehört. T-Zellen reagieren auf Krankheitserreger – manche von ihnen aktivieren dann B-Zellen (die zu den Leukozythen gehören), die Antikörper bilden können. Letztere docken an Merkmale von Erregern an und können sie unwirksam machen. B- und T-Zellen zusammen sind die entscheidenden Bestandteile des sich anpassenden Immunsystems.
Antikörper sind ein guter Hinweis auf eine frühere Infektion, aber noch kein Nachweis einer Immunität. Antikörper können den Eintritt der Viren in die Wirtszelle verhindern und das Virus so neutralisieren. Das Immunglobulin M (IgM) ist ein Antikörpermolekül. Ein erhöhter Wert bei einer Blutuntersuchung deutet auf eine aktuelle Infektion hin. uhe
Ein weiteres Rätsel besteht darin, dass nicht bei allen Infizierten Antikörper nachgewiesen werden können. So hatten griechische Wissenschaftler 26 Patienten mit nachgewiesener Infektion wiederholt auf Sars-CoV-2-Antikörper untersucht. Bei zwei Personen war jeder Test trotz positivem Nachweis der Viren und milder Erkrankung negativ. Das Ergebnis bezieht sich auf asymptomatische oder milde Verläufe.
In eine ähnliche Richtung weisen die Ergebnisse einer Untersuchung aus Österreich mit 25 Probanden. Unter diesen hatten nur 60 Prozent nach einer Infektion schützende Antikörper gegen das Virus. Bei sechs Probanden »funktionierten« jene Antikörper gut, die eine Bindung des Virus an den ACE2-Rezeptor hemmten. Über diesen Rezeptor entert das Coronavirus die Lungenzellen. Bei neun Probanden zeigte sich die Hemmung deutlich schwächer, bei fünf Probanden trat sie nicht ein. Bei den fünf übrigen Teilnehmern gab es eine paradoxe Reaktion: Das Virus konnte hier besser als vorher an den ACE2-Rezeptor der Zelle andocken. Die erneute Infektion wurde durch die körpereigenen Antikörper für das Virus noch vereinfacht.
Schon bis Anfang Juli gab es international noch mehrere Hinweise auf ähnliche Befunde. Einer der ersten kam aus China, wo Forscher ebenfalls festgestellt hatten, dass bei Infizierten ohne Symptome die Antikörperkonzentration im Blut bereits nach kurzer Zeit deutlich gesunken war. Deutsche Studien wurden unter anderen an den Proben von 12 000 Blutspendern durchgeführt - hier wurden in 1,5 Prozent der Fälle Antikörper gefunden. Eine Untersuchung in der Gemeinde Gangelt im nordrhein-westfälischen Heinsberg ergab immerhin 15 Prozent.
Abgesehen davon stellt das Fehlen von Antikörpern nach einer Infektion die Forderung infrage, irgendeine Form von Immunitätspässen auszustellen. Davon hatte man sich versprochen, die schon immunen Teile der Bevölkerung einfacher in Arbeitsprozesse einbinden zu können oder ihnen Dienstleistungen jeder Art ohne Einschränkung zugänglich zu machen. Das geht bis hin zu erfolgreichen Tests als Bedingung für den Erwerb eines Tickets für das Fußballstadion.
Schaut man auf andere Bestandteile des Immunsystems, zeigen sich weitere Überraschungen. So hatten bei Studien aus den USA und Deutschland bis zu 30 Prozent der Probanden, die nicht mit Sars-CoV-2 infiziert waren, trotzdem T-Helferzellen, die auf das Virus reagierten. Erklärt wird das mit dem früheren Kontakt mit anderen Coronaviren, die häufig im Zusammenhang mit herkömmlichen Erkältungen auftreten.
Neben offenen Fragen zur Dauer einer Immunität gibt es Hinweise darauf, dass sich durch Covid-19 das Immunsystem als Ganzes zu verändern. Das vermuten jedenfalls Forscher von der Medizinischen Hochschule Hannover. In der niedersächsischen Landeshauptstadt gibt es eine Covid-Ambulanz für Genesene, in der Patienten nach der Erkrankung weiter begleitet werden. Denn bei einigen von ihnen wurden noch Wochen und Monate später Symptome beobachtet, darunter Müdigkeit, geringe körperliche Belastbarkeit, Konzentrationsschwäche, Atemprobleme sowie Geschmacks- und Geruchsverlust. Solche Folgen zeigen sich nicht nur bei Patienten, die schwer erkrankt waren, sondern auch auch bei jenen mit mittlerem oder milderem Verlauf. In einer Studie werden nun rund 100 Betroffene mindestens über ein halbes Jahr regelmäßig untersucht. Im Ergebnis sollen die Immunprofile der Teilnehmer im Zusammenhang mit anhaltenden Beschwerden erforscht werden.
Auch wenn die Infektionszahlen weltweit in die Millionen gehen, haben immer noch viel zu wenige Menschen Covid-19 überstanden, um mit einer möglichen Herdenimmunität die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Daraus wiederum ergibt sich, dass nur eine Impfung tatsächlich schnell zu einem Schutz großer Bevölkerungsgruppen führen könnte. Auch hier scheint noch etwas Geduld nötig, sollte das neue russische Sputnikwunder, der in dieser Woche zugelassene erste Impfstoff, sich nicht bewähren oder nicht schnell in großer Menge produziert werden können.
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