Psychosozialmedizinseelsorger
Die kanadische Krankenhausserie »Nurses« ist so krank wie unsere Geheimnisse
Schon Wahnsinn, was der medizinische Nachwuchs in einer gewöhnlichen Notaufnahme eines gewöhnlichen Krankenhauses an einem gewöhnlichen Wochentag einer gewöhnlichen Stadt so erlebt. Kaum dass ihr »Frischfleisch«, wie die Oberschwester fünf Pflegerinnen und Pfleger am St. Mary Hospital in Toronto begrüßt, den Dienst antritt, werden Schwerverletzte eines Terroranschlags eingeliefert. Und dann erweist sich einer von ihnen, nach mühseliger Lebensrettung, auch noch als Attentäter.
In rascher Folge kriegen es die fünf Rookies in der kanadischen Krankenhausserie »Nurses« mit einer schweren Frühgeburt und zwei Fingern ohne Hand zu tun, mit Hirnschlagtoten und Halsschlagaderfontänen, humanistischer Hingabe und medizinischer Hilflosigkeit, mit Gottes Werk und Teufels Beitrag, also vielem, was reale Kliniken wohl über mehr als acht Stunden Schicht verteilen würden. Kein Wunder, dass die neue Krankenschwester Claire ihren Freund nach Feierabend telefonisch um »Thai-Food, Netflix und dich, nicht unbedingt in der Reihenfolge« bittet. Kein Wunder aber auch, dass er dabei neben seiner Verlobten sitzt, die mit ihm grad Hochzeit plant.
So sind halt die Gesetze einer TV-Serie, mit der Universal den breiten Strom klinischer Fiktionen mit einem weiteren Zufluss speist. Obwohl sich das Wasser darin durchaus unterscheidet. Während die meisten Medical Dramas seit »General Hospital« den Krankenhausalltag vor allem aus ärztlicher Perspektive erzählen, also als Chefsache mit assistierenden Sidekicks, blickt »Nurses«, wie sowohl männliche als auch weibliche Pfleger im englischen Original heißen, strikt aus deren Sicht aufs Geschehen.
Dramaturgisch gibt hier der Maschinenraum die Kommandos, genauer: fünf genretypisch wohlgestalte, aber verblüffend ambivalente Nurses. Da wäre die arglos hübsche Grace (Tiera Skovbye), hinter deren zerbrechlicher Fassade ein Kraftpaket lauert. Dazu der unglücklich gescheiterte Footballer Keon (Jordan Johnson-Hinds), bei dem es eher umgekehrt zu sein scheint. Das verzogene Gör Nazneen (Sandy Sidhu) dagegen ist ihrem reichen Elternhaus entflohen, während Wolfs (Donald Maclean Jr.) Hilfsbereitschaft offenbar ein Drogenproblem überspielt. Welche Rolle die flatterhafte Ashley (Natasha Calis) im vielschichtigen Quintett spielen darf, bleibt in den ersten drei von zehn Folgen noch diffus. Sie wird aber schon noch die nötigen Abgründe offenbaren.
Denn natürlich wird der kanadische Pflegenotstand auch emotional überfrachtet, Rettungsobjekte in spe neigen dazu, auf der Bühne zusammenzubrechen und sehr theatralisch zu leiden, was die fünf Hauptfiguren zu einer Art Psychosozialmedizinseelsorgern mit Roof-Top-Restaurant statt Krankenhaus-Cafeteria macht. Aber »Nurses« ist schließlich auch Unterhaltung, keine Dokumentation. Und dass darin mehr Wahrhaftigkeit liegt als in den Vorläufern, von der deutschen »Für alle Fälle Stefanie« bis zur aktuellen Hollywood-Version »Nurse Jackie«, liegt am spürbaren Interesse der Showrunner für die Belange des Nachwuchses.
Ilana Frank, Vanessa Piazza, Adam Pettle und Tassie Cameron hatten sich ja schon in der Polizeiserie »Rookie Blue« recht einfühlsam um die Bewährung von Berufsanfängern im Fronteinsatz bemüht, ohne dabei ständig ins Pathos abzugleiten. Die Zeitlupen-Cliffhanger mit philosophierenden Off-Kommentaren à la »Man ist nur so krank wie seine Geheimnisse« kratzen zwar an der Melodramatik von »Grey’s Anatomy«; doch weil hier niemand nur gut oder böse ist, weil Kompetenz schon mal versagen darf und Stümperei obsiegen, ist »Nurses« eher ein zeitgenössisches Update vom lebensbejahenden Neunziger-Chic des »Emergency Room«.
Viel zu viele Krisen, Kriege, Pandemien später sagt ein Profi zwischen Erstversorgung und OP zum Anfänger, Notaufnahme sei »wie Highschool, nur mit Sterben«. Das ist unser Dasein einmal auf den Punkt gebracht: Das berühmte lebenslange Lernen, das tödlich endet. So oder so. Besonders im Krankenhaus.
Läuft auf Universal TV
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