Erfundene Bedrohung der Macht der Ungleichheit

Best of Menschheit, Teil 33: Cancel Culture

  • Tim Wolff
  • Lesedauer: 3 Min.

Das Jahr 2020 wirkt für viele in den reichen Gegenden der Menschenwelt wie ein außergewöhnliches Katastrophenjahr. Ein Virus zwingt sie, beim Einkaufen und in öffentlichen Verkehrsmitteln (inkonsequent) die Nase und den Mund zu bedecken. Die Klimakatastrophe führt zum Jammern über gelbbraune Wiesen und Hitze in Dachgeschosswohnungen. Und nebenbei müssen sie noch ertragen, dass Lebensmittelkonzerne ihre »Zigeunersauce« umbenennen.

Das klingt alles nicht so schlimm. Ist es auch (noch) nicht. Es ist noch weit entfernt davon, welche Katastrophe die in der ersten Welt (die sich aus ein wenig neuer Scham nicht mehr so nennt) vermisste Normalität für den großen Rest der Spezies eigentlich bedeutet. Es sind nur die ersten zaghaften Einschränkungen dessen, was die Menschen in hiesigen Gegenden Freiheit nennen. Weitere werden folgen. Denn der Lebensstil, der die Freiheit garantiert, alle Unbill der Produktion von Wohlstand (noch so ein Betrugswort) auf andere abzuwälzen, ist ohne offene Faschisierung nicht mehr zu haben. Der Planet hat nur noch ein Weilchen genügend Ressourcen dafür übrig. Und die trotz des alten Überflusses ohnehin ungerechte und brutale Verteilung des Lebensnotwendigen kann nicht mehr so leicht zu einem angeblich natürlichen Prozess umgelogen werden.

Sie, die Gewinner dieses inhärent ungerechten Spiels, haben die giftige Produktion ihrer Waren in die Hände von Kindern ferner Menschen verlagert und schicken anderen den giftigen Müll. Währenddessen reisen sie in giftigen Riesenmaschinen in die Länder dieser Menschen und beklagen, in welch giftigem Zustand diese Regionen sind - sofern sie sich nicht vor den Einheimischen bewacht an den schönsten Stränden herumwanzen und alles vollkotzen oder zur Prostitution gezwungene Kinder missbrauchen. Wollen diese Menschen aber diesem Elend entfliehen, sorgen die Erstweltler dafür, dass sie im Meer ertrinken oder schicken sie zurück in die Kriege, die mit ihren Waffen geführt werden.

Als Ideal betrachten sie, dass alle ungefähr so ähnlich leben sollen - sie nennen das »Wachstum« -, glauben aber selbst nicht dran, dass es einmal so kommen wird. Daher erniedrigen und entmenschlichen sie fortwährend alle, die sie mit ihrer unsichtbaren Hand würgen, selbst in Nebensachen wie Speisebezeichnungen. Sie hassen lieber, als Schmerz zuzulassen (um James Baldwin zu paraphrasieren). Sie hassen so routiniert und internalisiert, dass sie ihren Hass als selbstverständlichen menschlichen Umgang wahrnehmen.

Macht sie jemand auf ihn aufmerksam, kommt er erst recht in voller Wucht. In trivialen Projektionen fantasieren sie sich dann als Opfer und behaupten sie, die von Jahrhunderten der Gängelung, Auslöschung und hegemonialen Ausnutzung profitiert haben, ihre Kultur würde in einer Verschwörung irgendwie linker Herrschaft gecancelt. Und sie können dabei sogar auf einen Vollidioten wie Donald Trump starren, der als Präsident des Landes, das die Welt des Freiheitwachstumwohlstands beherrscht hat, ihre Ideale konsequent pervertiert, ohne auf sich zu schließen. Sie glauben tatsächlich, in der Mitte zwischen »Rechtspopulismus« und »Cancel Culture« zu leben.

Cancel Culture ist Fake News ist Political Correctness, erfundene Bedrohung der Macht der Ungleichheit. Wie schön wäre es, gäbe es so etwas tatsächlich: etwas, vor dem sie/wir Angst haben müssten, etwas, das die destruktive Ordnung fundamental bedroht. Aber alles, was im letzten Jahrhundert der Menschheit dazugekommen ist, sind schnelle mediale Netzwerke, in denen auch die biologisiert Unterdrückten gehört werden. Und die spärlichen Erfolge - hier und dort ein bis dahin ungewohntes prominentes Gesicht und gewonnene Diskussionen um manche Wörter und Handlungen - verdanken sie dem gleichen Markt. Er passt sich der Kundschaft an.

Doch wieso nicht die Chimäre lebendig werden lassen? So eine richtige Cancel Culture zum Sapiens-Finale, das wäre immerhin eine kleine Ehrenrettung.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.