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Willkommen in der Endzeit
Eine Passauer Studie kritisiert die Corona-Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Als in der Sowjetunion vor sehr langer Zeit auf einem Dorf den Kolchose-Bauern die Segnungen des Kommunismus im Allgemeinen und zum ersten Mal auch die Fortschritte der Cinematographie im Besonderen nähergebracht werden sollten, wurden alle in der Dorfscheune versammelt. Die angespannte Ruhe entlud sich in lautes Weh und Ach. Es flogen Tische und Bänke, ein Laufen nach gefüllten Eimern, um hinter der Leinwand das Feuer des brennenden Hauses zu löschen, das der knatternde Projektor bedrohlich in den Raum geworfen hatte.
Gut 100 Jahre später scheint man an der Uni Passau in der Unterscheidung von Projektion und Realität nicht wesentlich weiter zu sein. Zumindest, wenn man das Preprint der Studie »Die Verengung der Welt. Zur medialen Konstruktion Deutschlands unter SARS-CoV-2 und Covid-19 anhand der Formate ›ARD Extra‹ und ›ZDF Spezial‹« liest. Geschrieben haben es Martin Hennig und Dennis Gräf vom Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft. Sie haben versucht, mehr als 90 Sendungen von »ARD Extra« und »ZDF Spezial« im Zeitraum von Mitte März bis Mitte Mai zu analysieren. Das, was die einfachen Bauern früher noch nicht so genau wussten, haben sie immerhin schon herausgefunden: »konstituieren sich auch journalistische Beiträge wie jeder Text mittels Operationen der Auswahl (paradigmatische Ebene) und Kombination (syntagmatische Ebene) von Elementen aus Zeichensystemen und konstruieren darüber eigenständige textuelle Bedeutungen. Dies betrifft im Bereich des Fernsehjournalismus auf paradigmatischer Ebene etwa Drehorte, Kameraeinstellungen, Möglichkeiten der Lichtsetzung, potenzielle InterviewpartnerInnen und Interviewfragen, den Inhalt von Bauchbinden etc., unter denen jeweils ausgewählt wird und die im filmischen Syntagma kombiniert auftreten. Aus der Kombination von Elementen innerhalb einer Beitragssequenz und darüber hinaus auch aus der Kombination von Beiträgen innerhalb eines vollständigen Sendungsformats eröffnen sich weitere Bedeutungsebenen«.
Abgesehen von der Frage, wie Akademiker der deutschen Sprache solche Sätze abringen können, beschreibt dieser Absatz schlicht das Handwerk des normalen Fernseh-Machens. Es weiß doch jedes Kind, dass Politiker genau die Menschen sind, die immer sinnfrei von rechts nach links durch irgendwelche Glastüren laufen und dann exakt 20 Sekunden etwas in die Kamera sagen. Das nennt man Antextbilder. Und die Nachrichtensendungen bieten eben nur Raum für kurze Statements. Jede Sendeminute ist Konstruktion und Inszenierung. Das wahre Leben ist nicht zweidimensional und nicht 16:9, sondern findet statt, wenn man den Ausknopf findet.
Die beiden Wissenschaftler aus Passau aber werfen der öffentlich-rechtlichen Corona-Krisen-Berichterstattung vor, dass nach allen Regeln der üblichen Kunst Fernsehen gemacht wurde. Etwa, dass die anstehenden Probleme zwischen Homeoffice und Homeschooling personalisiert durch wenige Familien dargestellt wurden. Dass die wirtschaftlichen Belastungen durch die Porträtierung nur weniger Gastwirte und Freiberufler ins Bild kam. Ja, wie denn sonst? Haben etwa nur Tabellen und Tortendiagramme Aussagewerte?
Darüber hinaus bezweifelt die neue Studie aber auch, dass die Sondersendungen nach bestem Wissen und Gewissen gestaltet wurden. Denn die täglichen Prime-Time-Ausstrahlungen hätten zu einer »Verengung der Welt« geführt. »Wenn nahezu täglich das Exzeptionelle zum neuen Regelfall stilisiert wird, dann findet damit zwangsläufig eine lebensweltliche und auch ideologische Engführung statt, die einer Ausblendung aller anderen gesellschaftlich relevanten Gemengelagen entspricht.«
Genau, wo waren bitteschön die wesentlich wichtigeren Berichte zur deutschen Gartenzwergproduktion? Statt die wirkliche Welt und die relevanten Themen zu behandeln, habe das öffentlich-rechtliche Fernsehen als »Verstetigung des eigentlich als Abweichung konzipierten Formats ein permanentes Krisen- und Bedrohungsszenario« gesendet. Leere Geschäfte und Fußgängerzonen, verwaiste Turnhallen oder Kirchen, also »Bildwelten apokalyptischer Endzeiterzählungen«. Völlig unverantwortlich bedeutet das: »So drastisch die Auswirkungen von Kita- und Schulschließungen, die Situation der Gastronomie usw. tatsächlich auch waren und sind, ist deren permanente Problematisierung zusätzlich dazu angetan, Panik in der Bevölkerung aufkommen zu lassen.«
Das beweist die tägliche Polizeistatistik. Nach jeder Sondersendung sprangen die Bundesbürger im Dutzend vom Balkon, weil sie es nicht mehr aushielten. Quatsch. Das deutsche Fernsehvolk weiß offensichtlich besser zwischen Fernseh-Inszenierung und Realität zu unterscheiden als die beiden Autoren aus Passau, für die die Welt eben im Fernsehen stattfindet und die ihren offensichtlichen Blödsinn auch noch als wissenschaftliche Expertise verkaufen wollen.
Und weiter heißt es in der Studie: »Die wiederholte Kritik an den zerstückelten Regulatorien der Bundesländer (lässt sich) als Wunsch nach einem starken Staat lesen.« Denn »wenn die ModeratorInnen die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen im Zusammenhang mit der Einschränkung der Grundrechte stellen, so sind diese Fragen jedoch im Prinzip als rhetorische Fragen zu verstehen, deren Beantwortung (von PolitikerInnen einerseits und innerhalb redaktioneller Berichte andererseits) die ideologische Marschrichtung der Politik konsolidiert«. Das nennt man Moderation und journalistische Recherche. Wird das in Passau als die mediale Vorbereitung der Diktatur gewertet? Das literaturwissenschaftliche Preprint könnte sich alsbald als Bestseller auf Corona-Verschwörungs-Demos erweisen.
Natürlich wiesen ARD- und ZDF-Verantwortliche die Kritik aus dem Preprint zurück. Auch Bernhard Pörksen, Medienwissenschaftler an der Uni Tübingen, konnte im aktuellen BR-Medienmagazin die Meinung seiner Passauer Kollegen nicht nachvollziehen.
Alle gesellschaftlichen Bereiche seien ab März in einer elementaren Ungewissheit befangen gewesen, und so hätten es auch die öffentlich-rechtlichen Medien transportiert, als ein »gigantisches publizistisches Experiment«, was im Laufe der Wochen zu einer Zweiteilung der Medienwelt geführt habe.
Die Mehrheit der Bundesbürger habe sich, Gott sei Dank, über die seriösen eben auch öffentlich-rechtlichen Medien informiert, 30 Prozent aber konsumierten alternative Medien und verbreiteten Verschwörungsdenken. Der Desinformationsmüll über private Kanäle habe überhandgenommen. Der seriöse Journalismus sei daher so wichtig, aber auch gefährdet wie selten zuvor. Daher brauche es zum Beispiel auch mehr Medienkompetenz-Vermittlung schon an den Schulen, so Pörksen. Und man könnte ergänzen, dass sich auch die Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Uni Passau noch gehörig auf den Hosenboden setzen muss, um zu begreifen, wie Medien funktionieren und wie seriös das ist, was öffentlich-rechtliche Nachrichten und Sondersendungen meistenteils liefern.
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