Statine für Risikopatienten, aber nicht für Gesunde
Blutfettsenker werden häufig empfohlen - sie nützen aber nicht allen, die erhöhtes LDL-Cholesterin haben
Für den Schweizer Mediziner Thomas Rosemann ist klar: »Viele Patienten mit einem hohen Risiko für Herzinfarkt oder Schlaganfall sind mit Statinen eher unterversorgt.« Das gelte vor allem für Hochrisikopatienten, also Menschen, die ein Risiko von mehr als zehn Prozent haben, in den nächsten zehn Jahren einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu erleiden. Grund: Viele von ihnen haben viel zu viel LDL-Cholesterin im Blut. Das Blutfett kann die Arterien schädigen und gilt als wichtiger Risikofaktor für Herzkreislauferkrankungen. Eine intensive Statintherapie kann zahlreichen Studien zufolge den Cholesteringehalt im Blut um bis zur Hälfte reduzieren.
Rosemann, Professor für Hausarztmedizin an der Universität Zürich und aus Deutschland stammend, beruft sich auf Ergebnisse einer neuen Studie, die er mit vier Schweizer Kollegen vor kurzem in der Zeitschrift »Swiss Medical Weekly« veröffentlicht hat. Die Forscher werteten Daten von 117 79 Patienten aus, die von 540 Hausärzten in der Schweiz im Jahr 2018 Statine verordnet bekamen. Ergebnis: Fast jeder zweite Patient hat ein sehr hohes Risiko für eine Herz-Kreislauf-Krankheit. Grund: Acht von zehn Betroffenen haben einen zu hohen Blutdruck, zwei von drei Diabetes, jeder zweite hatte bereits einen Infarkt oder Schlaganfall. Und jeder vierte leidet an chronischen Nierenproblemen. All diese Faktoren erhöhen die Wahrscheinlichkeit, einen Infarkt oder Schlaganfall zu erleiden.
Zwei von drei dieser Patienten bekamen nicht genug Statine, um das LDL-Level auf ein ungefährliches Maß zu senken. Genau dies empfehlen jedoch deutsche und europäische kardiologische Fachgesellschaften in Leitlinien. Rosemann sagt: »Die Datenlage für Statine zeigt, dass sie die wirksamsten Medikamente zum Schutz vor Herzkreislaufkrankheiten sind, doch sie kommen oft zu wenig zum Einsatz.« Neben einer allgemeinen Skepsis gegenüber Medikamenten fürchten manche Ärzte, aber auch Patienten, die Nebenwirkungen von Statinen, nämlich Muskelschmerzen, Leberschäden oder Diabetes.
Die Ergebnisse aus der Schweiz decken sich mit Zahlen aus Deutschland, die die Fachzeitschrift »Atherosclerosis« vor zwei Jahren in einer Studie veröffentlichte. Die deutschen und US-amerikanischen Forscher untersuchten die LDL-Cholesterin-Werte und den Statin-Gebrauch von 42 767 deutschen Patienten. Nur knapp die Hälfte derer, die kürzlich einen Herzinfarkt erlebt hatten, bekam genug Statine, um ihre LDL-Werte genügend abzusenken. Bei Patienten, die einen Schlaganfall durchgemacht hatten, war es nur jeder dritte. Die Forscher zogen daraus den Schluss: Unter deutschen Hochrisikopatienten ist der Statingebrauch zu niedrig.
Allerdings hat die Studie zwei Schönheitsfehler: An ihr waren auch vier Wissenschaftler beteiligt, die für Sanofi-Aventis oder Regeneron arbeiten. Beide Pharmakonzerne verkaufen Statine. Zudem stammen die Daten aus dem Jahr 2013.
Neuere Studien aus Italien und Frankreich kommen jedoch zu vergleichbaren Ergebnissen. Und selbst unabhängige Experten wie der österreichische Kardiologe und Herausgeber des Fachmagazins »Arzneimittelbrief«, Jochen Schuler, raten Patienten, die bereits eine Herzkreislauferkrankung durchgemacht haben, auf Dauer Cholesterinsenker zur Prävention einzunehmen. Ein Argument dafür könnten auch niedrige Kosten sein: So ist die Therapie etwa mit einem Atorvastatin-Generikum schon mit 20 Cent pro Tag finanziert.
Umstritten ist, wer sonst noch Statine schlucken sollte. Kardiologische Fachgesellschaften raten selbst Gesunden mit leicht erhöhten LDL-Werten und moderatem Infarktrisiko, Statine einzunehmen. Epidemiologen der Universität Zürich stellten jedoch im vergangenen Jahr fest, dass viele Nutzer davon nicht profitieren. Statine verhinderten etwa bei Senioren nur wenige Infarkte, lösten aber häufig Nebenwirkungen aus.
Für den unabhängigen Experten Jochen Schuler gilt der Grundsatz: Gesunde brauchen keine Arzneimittel. Statine verbesserten zudem nur den LDL-Wert. Wer sich umfassend schützen wolle, sollte das Rauchen aufgeben, abnehmen, mehr Sport betreiben und gesünder essen. Gut für Herz und Kreislauf ist etwa der Verzehr von Früchten, Nüssen, Hülsenfrüchten, Joghurt oder Vollkornprodukten. Als eher ungünstig gilt der Konsum von viel rotem Fleisch, Weißmehl, Zucker oder viel Salz.
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