Im Zustand der Verwahrlosung
In »Die Erfindung der Null« erinnert Michael Wildenhain an die Berliner Hausbesetzerszene der 80er Jahre
Alles beginnt mit eine Vermisstenmeldung. Eine 47-jährige Frau aus Deutschland ist in ihrer Unterkunft, einer kleinen Pension in Südfrankreich, nicht mehr aufgetaucht. Wanderer finden einige ihrer Kleidungsstücke im Gebüsch. Ihr Begleiter, der wenige Jahre ältere Mathematiker Martin Gödeler, Hauptprotagonist und Ich-Erzähler von Michael Wildenhains Roman »Die Erfindung der Null«, gerät unter Tatverdacht. Ein junger Staatsanwalt ist überzeugt, in ihm den Mörder vor sich zu haben und versucht, den überraschend auskunftsfreudigen Mann zu überführen.
Den einst als aussichtsreichen Kandidaten für eine Universitätskarriere gehandelten Wissenschaftler hatte es nach Stationen in Hamburg und Berlin sowie einer gescheiterten Ehe als Lehrkraft in ein Stuttgarter Nachhilfeinstitut verschlagen, das auf die Vorbereitung für das Mathematikabitur spezialisiert ist. Dr. Gödeler lebt alleine im Bohnenviertel. Er schafft es nicht, seine Habilitation über ein Problem der Differentialgeometrie zu Ende zu bringen. Er besitzt weder PC noch Laptop, keinen Zugang zum Internet. Statt eines Handys benutzt er ein antikes Telefon mit Wählscheibe. Bald wird deutlich, dass er sich in einem Zustand fortschreitender Verwahrlosung befindet und ihn nur seine Unterrichtspflichten davor bewahren, gänzlich abzurutschen. »Mehrere Male«, schildert der Ich-Erzähler sein regressives Verlangen, »gebe ich dem Bedürfnis nach, mich auf der Matratze ins Laken zu entleeren. Die Wärme, die sich in den ersten Momenten einstellt und die ich deutlicher empfinde als Hunger und Durst, ruft in mir eine schöne Behaglichkeit hervor. Ich bleibe so lange im klammen Bettzeug liegen, wie die Empfindung mir Heim ist und Haus.«
In seinem früheren Leben gibt es eine Frau, eine mittlerweile erwachsene Tochter und eine linksradikale Geliebte, die aus Protest gegen völkisch-nationalistische Entwicklungen an einem Anschlag auf die Berliner Siegessäule beteiligt ist und der er hilft, unterzutauchen. Weitere Figuren im Roman sind Zacharias, ein jugendlicher afghanischer Flüchtling, sein Freund Lurek und Juno, in die Zacharias verliebt ist und die sich prostituiert. Bewegung in Gödelers wenig aufregendes Leben kommt, als ihn die drei bitten, vertiefende Extrastunden zu geben und er von einer weiteren ehemaligen Geliebten, Susanne Melforsch, aufgesucht wird. »Ihre bloße Gegenwart«, realisiert Gödeler, »insistiert mit stetem Schlag: Woher bist du gekommen, wohin bist du geraten, wer wolltest du einst sein.« Sie ist es aber auch, die in Südfrankreich vermisst wird und in den Augen des jungen Staatsanwalts von niemand anderem als Gödeler ermordet worden ist, der mit ihr einen Wanderurlaub verbracht hat.
In Rückblenden setzt sich allmählich ein Puzzle zusammen, das am Ende ein ganz anderes Bild zeigt, als es zunächst den Anschein hatte. Ob und wie das Ganze aufgelöst wird, soll an dieser Stelle nicht verraten werden.
Obgleich Michael Wildenhains neuer Roman im Gewand einer spannend erzählten Kriminalgeschichte daherkommt und die Verstrickung einiger Protagonisten in linke Politik erst nach und nach deutlich wird, kann man ihn als Variation auf ein Thema lesen, dass den in der Berliner Hausbesetzerszene der 1980er Jahr politisch sozialisierten Schriftsteller seit langem umtreibt. Was hat es mit dem Entschluss eines Menschen auf sich, sich mit Haut und Haar einer Sache zu verschreiben? »Sowohl der Kampf für ein unbedingtes Ziel«, lässt der Schriftsteller seinen Ich-Erzähler reflektieren, »als auch das Einstehen für die Suche nach Wahrheit, das Eingehen ins mathematische Feld, die Gabe, das eigene Sein dem einen wie dem anderen Anliegen darzubringen, eignet eine Kraft existenzieller Unhintergehbarkeit. Eine Wucht, die nicht bezweifelt werden kann, sondern für das Individuum, das sich dem Zweck überantwortet, unmittelbar evident ist.«
Bereits in Wildenhains 1983 bei Rotbuch erschienenem ersten Roman »Zum Beispiel K.«, der inmitten und auch als Reflexionsangebot für die Berliner Hausbesetzerbewegung dieser Zeit geschrieben worden ist, ging es nicht zuletzt um die unbedingte Hingabe an ein politisches Ziel, die sich teilweise in gewaltsamen Aktionen niederschlug. Als Antwort auf Wohnungsnot, private Immobilienspekulation und die Abrisspolitik des Berliner Senats griff ein breites Spektrum der Linken zur Selbsthilfe, schuf sich Freiräume und provozierte dabei immer wieder das Einschreiten der Polizei. »Man definiert sich durch Gesinnung, aber vor allem durch Militanz«, schreibt Wildenhains erste Lektorin Gabriele Dietze, »Körperbeherrschung, Schnelligkeit und Ausdauer sind im ›Kampf mit den Bullen‹ erforderlich. Immer wieder muss den Zurückbleibenden geholfen werden, oder sie müssen rausgehauen werden.«
Als der angehende Schriftsteller eines Sommertags mit seinem in eine Kladde eingefassten schmuddeligen Manuskript in die damaligen Verlagsräume im vierten Stock eines Berliner Hinterhofgebäudes in der Potsdamer Straße 2 hinein geschlurft kam, erkannte die ein paar Jahre ältere Dietze einen »Jungfreak« aus der nächsten Generation der Linken. Was sie aufmerken ließ, erinnert sich die Kulturwissenschaftlerin in dem von Thomas Wild und Christian Hippe herausgegebenen Buch »Geschichte und Individuum« über das literarisch-zeithistorische Werk des Autors, war die Tatsache, dass der vermeintliche Chaot ihren Lieblingslyriker, den Expressionisten Ernst Blass, zitierte. Der Band enthält Beiträge eines Symposium, das anlässlich des 60. Geburtstags von Wildenhain im Literaturforum im Brechthaus stattfand. Dietzes Beitrag schließt mit der Beobachtung, dass das von Wildenhain geschilderte Milieu mit dem der Expressionisten drei wichtige Aspekte gemeinsam hatte. Als da wären die Suche nach Grenzerfahrungen, die Bewegung in männlich geprägten Horden und ein starkes emotionales Gemeinschaftserleben. Interessanterweise sind das Orientierungen, die heute auch in der rechten Jugendkultur hoch gehalten werden. In den weiteren Aufsätzen des Sammelbandes kommt naturgemäß nur ein Teil von Wildenhains Wirkens als Autor von Theatertexten, Gedichten sowie Kinder- und Jugendbücher zur Sprache. Er enthält außerdem zwei bis lang noch nicht erschienene bzw. abgelegen veröffentlichte Essays von Wildenhain sowie ein Gespräch, dass der Journalist Hubert Winkels auf besagter Tagung mit ihm geführt hatte. Großen Raum nehmen die Texte von fünf Autorinnen und Autoren ein, die ihre Erfahrungen mit Wildenhain als Schreiblehrer schildern. Seit vielen Jahren unterrichtet dieser immer wieder unter anderem am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, im Studio Literatur und Theater Tübingen oder dem Bremer Literaturkontor.
Kapitelüberschriften in Wildenhains neuem Buch wie »Induktionsannahme«, »Gegenprobe« oder »Induktionverankerung« sollten Leser, die - wie der Rezensent - Schwierigkeiten mit der Sprache der Mathematik haben, nicht abhalten lassen. Der Roman ist spannend bis zum Schluss.
Michael Wildenhain: Die Erfindung der Null. Klett-Cotta, 303 S., geb., 22 €. Thomas Wild und Christian Hippe (Hg.): Geschichte und Individuum. Das literarisch-zeithistorische Werk Michael Wildenhains. Verbrecherverlag, 240 S., br., 24 €.
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