- Politik
- Atheismus in der DDR
Von der Delegitimierung zum Dialog
Konjunkturen und Erbe des »Wissenschaftlichen Atheismus« in der DDR
Unter der Überschrift »Fehler bei der Durchführung der wissenschaftlich-atheistischen Propaganda« weihte das »Neue Deutschland« am 19. November 1954 seine Leserschaft in eine Diskussion ein, die in der UdSSR nach dem Antritt Nikita Chruschtschows eingesetzt hatte - und am 10. November 1954 in einem ZK-Beschluss fixiert worden war: Dumm und schädlich sei es, loyalen Staatsbürgern nur wegen ihrer religiösen Haltung politisch zu misstrauen. Um die Menschen von ihrer »religiösen Verirrung« zu befreien, müsse indes die atheistische Propaganda auf eine stärker wissenschaftliche Grundlage gestellt werden.
Hierbei kam der Ausdruck »Wissenschaftlicher Atheismus« - nauchnyy ateizm - in Gebrauch. Einige Jahre später, nämlich 1963, wurde in Moskau der erste Lehrstuhl und 1964 ein eigenes Institut für Wissenschaftlichen Atheismus eingerichtet. Parallel dazu sollte auch in der DDR die atheistische Erziehung forciert werden. Entsprechende Bemühungen führten Ende 1963 gleichfalls zur Schaffung eines Lehrstuhls für Wissenschaftlichen Atheismus an der Universität Jena, auf den Olof Klohr (1927-1994) berufen wurde. Klohr hatte in Leipzig Gesellschaftswissenschaften studiert, war 1956 in Halle promoviert und 1962 in Jena habilitiert worden. Sein Doktorvater, der Philosoph und spätere DDR-Nationalpreisträger Georg Mende (1910-1983), gehörte zu den treibenden Kräften bei der universitären Etablierung des Atheismus.
Nachdem der 6. Parteitag der SED im Januar 1963 einen zu großen Abstand zur sowjetischen Forschung festgestellt hatte, wurden dazu weitreichende Pläne geschmiedet: Jena sollte zum Zentrum des Atheismus in der DDR werden. Das meiste davon entpuppte sich jedoch als reines Wunschdenken. Schon fünf Jahre später wurde das staatliche Projekt eines »wissenschaftlichen Atheismus« wieder aufgegeben.
An Klohr lag das indessen nicht. Er ging tatkräftig zur Sache und entfaltete mit seinen zunächst acht Mitarbeitern vielfältige Aktivitäten. Neben einer regen Publikationstätigkeit initiierte er Forschungsprojekte, pflegte Kontakte mit Wissenschaftlern im sozialistischen Ausland und rief eine eigene Schriftenreihe »Atheistische Forschungen« ins Leben. Schon im Dezember 1963 organisierte er eine internationale Tagung über »Moderne Naturwissenschaft und Atheismus« mit über 400 Teilnehmern. Klohr betreute in Jena 14 Diplomarbeiten, fünf Dissertationen und zwei Habilitationen (Dissertationen II). Seine Arbeit hatte in dieser Zeit eine klar antireligiöse Stoßrichtung. Als sich abzeichnete, dass die Religion nicht einfach so abstreben würde, also durch eine Änderung der sozialen Verhältnisse, trat auch er dafür ein, ihrem Ende aktiv nachzuhelfen. Drei Jahrzehnte später äußerte Klohr allerdings Bedauern über seine propagandistische Phase in Jena, die ihm den Beinamen »Chefatheist der DDR« einbrachte.
Abgeschobener »Chefatheist«
Warum dieser Wissenschaftliche Atheismus nach kurzer Zeit fallengelassen wurde wie die sprichwörtliche heiße Kartoffel, ist auch in der Rückschau nicht ganz klar. Die Angst, im Ausland der Religionsfeindlichkeit geziehen zu werden, scheint dabei eine Rolle gespielt zu haben. Außerdem sollten die noch immer zahlreichen Staatsbürger christlicher Konfession für den Aufbau des Sozialismus gewonnen statt verprellt werden.
Jedenfalls verlor Klohr die offizielle Unterstützung, und sein Mitarbeiterstab schrumpfte. Mehr noch, seine wissenschaftliche Arbeit wurde obstruiert; ein bereits fertiggestelltes Buchmanuskript über »Marxistische Religionssoziologie« durfte nach einer Intervention der Arbeitsgemeinschaft für Kirchenfragen beim ZK der SED nicht gedruckt werden. Im September 1969 wurde er schließlich in die zweite Reihe abgeschoben: an die Ingenieurhochschule für Seefahrt Warnemünde/Wustrow, wo er eine Professur für Dialektischen und Historischen Materialismus erhielt.
Doch statt dort auftragsgemäß angehende Seefahrtoffiziere, die sich dafür womöglich nicht so brennend interessierten, in Sachen Diamat und Histomat zu schulen, ging Klohr auch weiterhin seinen wissenschaftlichen Neigungen nach. Diese verschoben sich zusehends vom naturwissenschaftlichen Materialismus auf das Gebiet der Religionssoziologie. Dass sein erster Jenaer Doktorand Hans Lutter (1928-2009) 1972 zum Gründungsrektor der Pädagogischen Hochschule Liselotte Hermann im 50 Kilometer entfernten Güstrow ernannt wurde, erwies sich dabei als Glücksfall. Mit Lutter bildete Klohr eine fruchtbare Arbeitsgemeinschaft, die zu wissenschaftlich durchaus beachtlichen Ergebnissen gelangte.
In Güstrow fanden zwischen 1976 und 1988 vier internationale Symposien statt, an denen jeweils 70 bis 80 Personen teilnahmen. Die Forschungsberichte »Wissenschaftlicher Atheismus« wuchsen bis 1989 auf über 50 Hefte an. Sie waren aber - ebenso wie die rund 100 Diplomarbeiten, 16 Dissertationen und sieben Habilitationen aus diesem Kontext - nicht allgemein zugänglich. In streng limitierter Auflage dienten sie dem internen Dienstgebrauch und der Qualifizierung leitender Kader. Über ihre politische Wirkung lässt sich nur spekulieren. Das gilt auch für die Unterrichtsmaterialien, die Klohr für das marxistisch-leninistische Grundlagenstudium erstellte, darunter ein 30-stündiger Kurs »Grundlagen des wissenschaftlichen Atheismus« aus dem Jahr 1982.
Außer dem Forschungskollektiv in Mecklenburg bestanden noch einige kleinere Atheismus-Arbeitskreise, von denen die Öffentlichkeit ebenfalls so gut wie keine Kenntnis hatte. Der von Wolfgang Kliem (1930-2015) geleitete Forschungsbereich Wissenschaftlicher Atheismus an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED in Berlin scheint sich vornehmlich mit der Zusammenarbeit von Kommunisten und Gläubigen befasst zu haben. Vor allem das Aufkommen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie weckte Zweifel an der herrschenden Meinung vom Klassencharakter der Religion.
Propaganda und Forschung
Dass damit der christlich-marxistische Dialog nun insgesamt in den Vordergrund rückte, erinnert etwas an Hegels heimliche List der Vernunft: Waren die Atheismusforscher zunächst auf den Kampf gegen das Christentum fixiert, endete ihre Arbeit bei dem Wunsch, Christen zum Engagement in der und für die DDR zu gewinnen. Das Konzept des Wissenschaftlichen Atheismus war unter solchen Bedingungen nicht zu halten. Klohr kam zu dem Schluss, dass sich eine wissenschaftliche Unternehmung nicht auf die bloße Negation von etwas gründen ließ, und Lutter plädierte für eine »marxistisch-leninistische Religionswissenschaft«.
Genau das, nämlich Religionswissenschaft, hatte jedoch mutmaßlich niemand aus dem Umfeld des Wissenschaftlichen Atheismus studiert. Zwar gab es sechs theologische Fakultäten in der DDR, aber nur eine Professur für Religionswissenschaft in Leipzig. Die Unzulänglichkeit im Umgang mit der Religion lag nicht zuletzt in fehlendem Wissen darüber begründet. Nicht nur in der DDR, sondern in allen sozialistischen Ländern stellte es sich als unmöglich heraus, das in der Verfassung verbürgte Recht auf Religionsfreiheit mit dem von Partei und Staat propagierten Atheismus übereinzubringen.
Die eingangs aufgeworfene Frage nach dem unwissenschaftlichen Charakter des wissenschaftlichen Atheismus lässt sich mit einem klaren »Jein« beantworten. Als Tendenzforschung, bei der für ein bereits feststehendes Ergebnis nur noch die passenden Belege gesucht wurden, liegt die Unwissenschaftlichkeit auf der Hand. Auf der anderen Seite gelang es aber doch einigen, sich mit seriösen Studien aus dem Kraftfeld der Atheismuspropaganda zu lösen.
Ein sachgerechtes Gesamturteil über den Wissenschaftlichen Atheismus in der DDR lässt sich beim derzeitigen Kenntnisstand nicht fällen. Material dazu fände sich in verschiedenen Archiven, doch vieles davon ist nicht oder schwer zugänglich. Die am Religionswissenschaftlichen Institut der Universität Leipzig angesiedelte Dokumentationsstelle »Religiöser und weltanschaulicher Pluralismus« verfügt ebenfalls über aufschlussreiche Dokumente, die einen genaueren Blick auf den Prozess der Entkirchlichung in der DDR erlauben.
Gelänge es, diese Diskussion insgesamt stärker quellenorientiert und weniger ideologisch und polemisch zu führen, würde das nicht nur ein besseres Verständnis der Religionsentwicklung in der DDR ermöglichen. Auch die gegenwärtige Debatte über den Zusammenhang zwischen positiver und negativer Religionsfreiheit könnte davon erheblich profitieren.
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