Ein Linke-Szene-Tier

Schwarzer Block und Elite-Uni. David Graeber ist tot

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit David Graeber ist der derzeit weltweit wohl bekannteste Anarchist völlig unerwartet und überraschend im Alter von 59 Jahren verstorben - am Mittwoch in einem Krankenhaus in Venedig, wie seine Ehefrau, die Künstlerin Nika Dubrovsky am Donnerstag in einem kurzen Tweet mitteilte. Die näheren Umstände sind noch nicht bekannt.

David Graeber wurde 2011 berühmt, als er den Slogan von »Occupy Wallstreet« in New York prägte: »Wir sind die 99 Prozent«. Sein 2012 erschienenes Buch »Schulden: Die ersten 5000 Jahre« machte ihn noch bekannter. In dem 500 Seiten dicken Werk analysiert der Anthropologe, dass Schulden grundlegend für die Entstehung des Kapitalismus seien und bis heute das Kapitalverhältnis prägen. Es wurde ein Sachbuch-Bestseller, der zur Schulden- und Finanzkrise wie die Faust aufs Auge passte, was ihm eine enorme Presse bescherte. Damals bekam er auch eine Einladung ins deutsche Fernsehen, in die Sendung von Maybrit Illner.

Von marxistischer Seite mitunter kritisiert, war er im konservativen Feuilleton ein hoch angesehener linksradikaler Kapitalismuskritiker. Graeber hatte jahrelang an der renommierten Universität Yale als Anthropologe geforscht und gelehrt, bis die dortige Unileitung 2007 seinen Vertag überraschend nicht verlängern wollte, worauf sich ein breiter akademischer Unterstützerkreis bildete und eine Debatte auslöste, da einige vermuteten, dass Graebers politische Gesinnung für diese administrative Entscheidung ausschlaggebend war.

Graeber, der über Erinnerungskultur und Gewalt im ländlichen Madagaskar promoviert hatte, arbeitete später am Goldsmith College in London und war zuletzt Professor an der London School of Economics. Graeber war aber nicht nur ein überaus erfolgreicher Akademiker im angelsächsischen Wissenschaftsbetrieb an den renommiertesten Instituten und Eliteuniversitäten, sondern auch Grassroots-Aktivist. Mehr noch: Der 1961 in New York geborene Sohn jüdischer Eltern war ein regelrechtes Linke-Szene-Tier. Er wuchs in einem kommunalen, selbst verwalteten Hausprojekt auf, seine Eltern waren ehemalige Kommunisten, die sich aus Enttäuschung über den Stalinismus den libertären Sozialisten angeschlossen hatten. Der Vater hatte sogar im Spanischen Bürgerkrieg gekämpft und bei der Revolution in Barcelona 1936.

David Graeber war seit früher Jugend politisiert. Im Lauf der Jahre nahm er an zahlreichen Protestbewegungen teil. Neben seiner Mitgliedschaft bei den Wobblies, auch bekannt als Industrial Workers of the World (IWW), die anarchistische Großgewerkschaft in den USA, war er bei zahlreichen Protestaktionen aktiv, unter anderem bei den legendären Blockadeaktionen in Seattle 1999 gegen die WTO. Er mischte ebenso bei den »Direct Action Networks« wie bei den »Anti-Capitalist Convergence«-Gruppen mit und gab darüber detailliert Auskunft in zahlreichen Texten und Büchern, die zum Teil auch auf Deutsch erschienen.

In diesen Publikationen konnte man beispielsweise erfahren, dass die militanten Aktivisten 1999 in Seattle vor allem Mitglieder von »Earth First« waren, die sich im Kampf um die Mammutbäume im Humboldt-County nach brutalen Repressionen durch die Polizei radikalisierten. Des weiteren berichtete er über die New Yorker Hausbesetzer und die Recht-auf-Stadt-Bewegung der 1980er Jahre, über wichtige Fragestellungen in den USA in Sachen Antirassismus und Arbeitskampf. Er plauderte in diesen Texten auch gerne mal aus dem Nähkästchen, schilderte szeneinterne Auseinandersetzungen und streute immer wieder gut erzählte Anekdoten ein: vom Riot beim Republikaner-Parteitag bis zum Kaffeeklatsch im linken Manhattaner Buchladen.

Graeber war ein Mann für knackige Slogans. Nicht nur, dass die Formel »Wir sind die 99 Prozent«, die in der Occupy-Bewegung bestimmend wurde, ursprünglich von ihm stammen soll. Auch der Begriff des »New Anarchism«, der im Nachklapp zu den Auseinandersetzungen in Seattle oft verwendet wurde, geht auf ihn zurück. Er wurde aus seinem 2002 in der »New Left Review« veröffentlichten Text »The new Anarchists« abgeleitet. Damals gab es einen regelrechten Anarchismus-Hype in der US-amerikanischen Linken.

Graeber mischte sich aber auch immer wieder in aktuelle Debatten ein, egal, ob es um die Bewegung der Gelbwesten in Frankreich, den Syrien-Konflikt und die Selbstverwaltung in Rojava oder weitere Protestbewegungen der vergangenen Jahre ging. Neben seinen zahlreichen Büchern gibt es im Netz Unmengen an politischen Texten von ihm zu entdecken.

In Buchform erschien zuletzt 2018 »Bullshit-Jobs - vom wahren Sinn der Arbeit«. In diesem weltweit erfolgreichen, sehr spannend zu lesendem Sachbuch analysiert er das Phänomen überflüssiger Jobs im mittleren Management-Bereich, von denen es aber immer mehr gibt.

David Graeber schaffte es immer wieder, einen Nerv der Zeit zu treffen und dabei von vielen gehört zu werden. Das gelingt heute nur wenigen Linksradikalen. Seine Stimme wird fehlen.

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