Film noir

Die im Dunkeln sieht man nicht: Pedro Costas Nicht-Film »Vitalina Varela«

  • Stefan Gärtner
  • Lesedauer: 4 Min.

Eine Frau, an die 40 Jahre verheiratet, fliegt von den Kapverdischen Inseln nach Lissabon, um ihren Mann zu beerdigen; sie kommt drei Tage zu spät. Mit Joaquim hat sie zwar zuhause mit eigenen Händen ein Haus gebaut, darin aber fast immer allein gelebt; ihr Mann, der Arbeitsmigrant, den sie kaum je gesehen hat, hat im Lissabonner Armenvorort Fontainhas ein eigenes, längst baufälliges. Vitalina Varela, verkörpert von einer gleichnamigen Laiendarstellerin, die auch am Drehbuch mitgewirkt hat und, weiß jedenfalls »Variety«, ihre Lebensgeschichte spielt, beschließt, Lissabon nicht mehr zu verlassen. Am Ende trägt sie, mit dem Priester der Siedlung, die Geliebte Joaquims zu Grabe.

Viel mehr geschieht nicht in Pedro Costas »Vitalina Varela«, und auch das geschieht eigentlich nicht, sondern wird in Monologen erzählt, in sturer Umkehrung des Prinzips show, don’t tell. Fast der ganze Film spielt nachts; er ist nie beleuchteter, als es die Slums von Lissabon sind, und das spärliche Licht fällt so sorgfältig gelenkt in die Häuser und auf die Wände, und die Menschen stehen so stumm und schemenhaft zwischen den barocken Lichtflecken herum, dass sich alles in eine Montage von Fotografien auflöst, und zwar über das technische Faktum hinaus, dass ein Film genau das ist; Fotografien, die in ihrer nachdrücklichen, streng kadrierten Künstlichkeit allerdings an eine gewisse Sorte Reklame erinnern.

Wer dem Film ein missgünstiges Etikett verpassen will, könnte auf »Ästhetisierung von Armut« kommen, und wenn der Priester, alt und krank, brabbelnd durchs Gehölz kriecht, evoziert das gar eine Vorstellung vom Dschungel und seinen nachtaktiven, rätselhaften Bewohnern; eine Vorstellung mit einer sicher völlig unbeabsichtigten, nämlich bestenfalls exotistischen Konnotation.

So streng ist dem Film alle Bewegung ausgetrieben, dass die zitternden Hände des Priesters, gar die Kotelettpfanne auf der Gasflamme, als Reize so ausreichen müssen wie der bellende Hund oder die rauschende Klospülung. Natürlich zwingt das Verfahren zur Aufmerksamkeit, und natürlich wird die Aufmerksamkeit, und auch das mit Absicht, enttäuscht, denn nie gewöhnen sich die Augen genügend an die Dunkelheit, dass man die richtig sähe, die man im Dunkeln bekanntlich nicht sieht und deren Leben, als Existenz oder Vegetieren, im Stillstand der Bilder aufgehoben ist. Dass es aber auf diese Metaphern hinausläuft, lässt die Grenze zur Selbstparodie von Autorenfilmkunst nahe᠆rücken, Dekonstruktion (das Invertieren von Kino als Licht- und Bewegungsspiel) hin, Chiaroscuro her; sogar von Hitler ist ja noch die Rede. Als Joaquims Haus beginnt, über seiner Frau zusammenzufallen, verzeiht man der Metapher, dass sie zum Symbol wird, weil dazu nicht mehr als ein herabfallender Ziegel gehört: Kontingenz, wie schön. Bevor’s nach Schema weitergeht; falls es dem Schema nicht anzurechnen ist, dass es diese kleine Szene so groß macht.

»Wir sind in der Trauer vereint«, sagt der Priester zur Witwe. »Du hast deinen Mann verloren und ich meinen Glauben in dieser Dunkelheit«, damit auch in jedem Fall verstanden sei, was der Film ohnehin in Versalien buchstabiert. Aber auch sein formaler Kniff, sein Hyperrealismus, ist ja nichts, worüber des Staunens kein Ende sein müsste, wenn das Arrangement so sorgsam ist, dass es sein Reales verliert und den Abgrund hinter dem, was da real heißt, freigibt. Als Fotografie, etwa beim US-Amerikaner Gregory Crewdson, funktioniert das, und im Einzelbild funktioniert das in »Vitalina Varela« ebenso; bloß dass 124 Filmminuten, selbst mit aller Macht entschleunigte, mehr Foto ergeben, als dem Kino vielleicht guttut. Es ist vorderhand keine Nicht-Idee, nach der Grenze zu suchen, jenseits deren ein Film zum Selbstwiderspruch wird, wie sich Kunst ja gern im Niemandsland zur Nichtkunst (zum Kitsch nämlich) bewegt; doch je mehr man sich einer Grenze nähert, desto eher latscht man auch mal drüber.

Dass erst am Schluss, auf dem Friedhof, Licht und Farbe herrschen (und die zu Bestattende ihren Tod einer Kerze schuldet, die auf die Matratze gefallen ist), ist das Grobsymbol, das die Grobsymbolik des Films, nun ja: erhellt - in der ersten Einstellung gleich der Kalvarienberg, und bloß der Herr allein führt aus der Dunkelheit -, und es ist für alle eine Erlösung, ans Tageslicht zu kommen, selbst wenn noch dieses Licht bei Costas zum Kunstlicht wird.

Lebendig ist in »Vitalina Varela« allein Vitalina Varela selbst, deren enttäuschte, Halt suchende Starre, deren würdevoller Trotz nach einem in Hoffnung gelebten Leben keine Kopfgeburt, sondern das Menschliche selbst sind und die sich von Costas’ finsterem Nichtausdruckstanztheater dann doch so abhebt, dass man im Dunkeln immerhin eine gesehen hat.

»Vitalina Varela«, Portugal 2019. Regie: Pedro Costa, Drehbuch: Pedro Costa, Vitalina Varela. Darsteller: Vitalina Varela, Ventura, Manuel Tavares Almeida, 124 Min.

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