»Diktaturen sind nicht lustig«

Melancholie, Heimat und das Virus: Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Herta Müller über Populismus in Zeiten der Krise und Wörter, die Halt geben

Frau Müller, »Herztier« war das erste Buch von Ihnen, das ich gelesen habe, und zwar auf Persisch, im Iran. Das ist das Schöne an Literatur, sie kann übersetzt werden und so viele erreichen. Wie ist das mit Ihren Collagen? Lassen sie sich übersetzen?

Ja, die wurden auch schon übersetzt. Das ist so, wie man Lyrik übersetzt. Sie sind ja jetzt keine Lyrik, aber eher in die Richtung Lyrik als in die Richtung Prosa, weil sie auch Reime haben. Es wird dann nachgedichtet. Oft ist das Nachdichten genauer als das Eins-zu-Eins-Übersetzen - wenn man die Stimmung trifft, die Atmosphäre, den Klang, den Rhythmus.

Zur Person

Herta Müller ist 1953 in Nitzkydorf in Rumänien geboren. Dort studierte sie Germanistik und Rumänistik und war als Übersetzerin und Lehrerin tätig. Ihr erstes Buch »Niederungen« erschien 1982 in Rumänien nur in zensierter Fassung. Wegen der Repressalien der Securitate und Morddrohungen unter der Herrschaft von Nicolae Ceauşescu reiste Müller 1987 in die Bundesrepublik Deutschland aus, wo sie Romane wie »Reisende auf einem Bein« (1989), »Herztier« (1994) und »Atemschaukel« (2009) veröffentlicht hat.

2009 wurde Herta Müller der Nobelpreis für Literatur verliehen. Seit 1989 fertigt Müller neben ihren Büchern auch Collagen an, für die sie Wörter und kleine Bildelemente aus verschiedenen Druckerzeugnissen ausschneidet. Ihr jüngster Collagenband »Im Heimweh ist ein blauer Saal« erschien 2019 im Hanser-Verlag. Eine Collage aus diesem Buch ist am 9. September an der Fassade des Neuen Berliner Kunstvereins präsentiert worden und bis 31. August 2021 in der Berliner Chausseestraße 128/129 zu sehen. 

Was passiert dann mit der Form?

Da werden die Originale abgedruckt. Denn das Visuelle muss bleiben, und dann wird der Text ganz gewöhnlich übersetzt.

Die Collage, die Sie jetzt an der Fassade des Neuen Berliner Kunstvereins präsentieren, erschien letztes Jahr in Ihrem Band »Im Heimweh ist ein blauer Saal«. Sie lautet: »Die große Melancholie ist wie ein Kirschkern aus Blei, die mittlere wie ein trinkendes Tier, die kleine wächst wie ein Gebäude in mir.« Haben Sie diese nun entsprechend der Corona-Zeit, der großen Melancholie, ausgewählt?

Nein. Sehen Sie, das Wort Corona sagt sich von selbst, weil wir jetzt in dieser Pandemie leben. Das macht dann der Text, das muss ich nicht absichtlich machen. Wenn das Wort Corona vorkommen würde, wäre es schon belehrend oder agitatorisch. Es gibt Sachen im Kopf, die sich automatisch übertragen. Oft wirkt das Indirekte stärker als das direkt Gesagte. Weil man oft das direkt Gesagte sogar abwehrt. Mit Corona haben wir ja ständig zu tun. Ständig, jeden Tag, unterschwellig, etwa wie wir jetzt hier sitzen. Sie haben eine Maske auf, wir sitzen so weit auseinander, man muss das Wort Corona nicht auch noch ständig sagen. Dann die Melancholie: Sie haben die Verbindung zu Corona hergestellt, und das hat der Text zugelassen. Insofern gehört der Text jedem, der ihn liest, und jeder kann damit in seinem Kopf, mit seinen Erfahrungen oder mit dem, was er dabei empfindet, das machen, was er auf sich selbst zuschneidet. Jeder, der einen Text liest, schreibt auch an dem Text mit durch seine innere Struktur.

Wie haben Sie die Auswahl getroffen?

Ich habe das optisch betrachtet: Wie würden die Wörter aussehen, wenn sie in einer Zeile stehen und wie würde es öffentlich wirken auf Menschen, die daran vorbeigehen. Ob es ein bisschen nachdenklich stimmt oder man ein bisschen innehält, wenn man das sieht. Melancholie kennt jeder, und es sind verschiedene Gelegenheiten oder Situationen oder Notwendigkeiten, die Melancholie hervorrufen.

In Ihren Romanen beschäftigen Sie sich mit Themen wie Diktatur, Heimat, Vergangenheit - schwierige Themen. In einem Interview meinten Sie sogar, nach jedem Buch würden Sie sagen: »Nie wieder!« Im Gegensatz dazu sind Ihre Collagen lässiger, sogar lustig. Macht es Ihnen mehr Spaß, Collagen zu erstellen?

Naja, es kommt darauf an. Der Humor braucht inneres Loslassen und eine Art von Unbekümmertheit. Wenigstens momentan. Da gibt es auch verschiedene Stufen: Der gute Witz beschäftigt sich fast immer mit ernsthaften Dingen. Denn auch die Witze basieren ja fast immer auf einer Katastrophe, wo es dann ins Lächerliche und ins Lustige kippt. Aber durch diese kurze Form - die Collagen sind ja immer kurze Texte, weil sie auch auf die Größe einer Ansichtskarte passen müssen - entstehen ganz andere innere Notwendigkeiten. Auch durch die vorgefundenen Wörter - ich schneide die Wörter aus - entsteht eine Art von Leichtigkeit. Die Themen Diktatur oder Tod oder Verfolgung, die ich in vielen anderen Büchern erzähle, eignen sich einfach nicht für Humor. Ich kann es nicht. Dafür ist in meiner Biografie viel zu viel passiert. Und das wissen Sie auch, wenn Sie aus dem Iran kommen: Diktaturen sind nicht lustig. Man kann sich über sie lustig machen, aber sie sind nicht lustig. Und das sehen wir jetzt wieder, wenn wir nach Belarus schauen oder nach Russland. Und in allen Diktaturen entstehen ähnliche Strukturen: Die Macht des Diktators ist uneingeschränkt, die Gesetze werden ständig gebrochen, die Menschenrechte zählen nichts. Auch tote Freunde, die man hat, sind nicht lustig. Ungeklärte Morde, die gibt es in allen Diktaturen, verschwundene Personen. Wenn ich über solche Gesellschaften schreibe, dann kann ich mir den Humor nicht leisten. Ich kann ein lustiger Mensch sein, aber nicht, wenn ich über die Diktatur rede.

Sie sind 1987, mit Mitte 30, nach Deutschland gekommen. In Ihrem Roman »Reisende auf einem Bein« geht es auch um eine Frau, Mitte 30, die nur mit einem Koffer ihre Heimat, die Diktatur, verlässt und in ein anderes Land kommt, wo sie eigentlich nie so richtig ankommt. Kann man die Heimat loswerden, indem man sie verlässt?

Wenn man gefährdet ist und wenn man sich rettet, dann wird man eine Bedrohung los. Wenn man es schafft, zu fliehen oder auszureisen, glaubt man das wenigstens. Man ist das Land los. Aber man nimmt es mit im Kopf. Jeder, der aus einem Land entkommt, kennt ein paar 100 Leute, die noch weiter in der Situation leben, und darüber ist man auch nicht glücklich. Man muss aber auch ankommen, man muss weitermachen, man muss in diesem Alltag zurechtkommen - das heißt: Man arrangiert sich. Aber dass das andere komplett verschwindet, das glaube ich nicht. Man kann sich nicht im Stich lassen, weil man zusammengewachsen ist, und dann stehen da plötzlich zwei Personen. Ich glaube, Exil hört nie ganz auf.

Sie äußern sich politisch über die Lage in Europa. Was würden Sie denn heute an Deutschland kritisieren?

Es gibt keine perfekte Gesellschaft und es gibt überall die Anfänge von Missbrauch an ganz verschiedenen Stellen. Was mir in Deutschland zur Zeit am meisten Sorgen macht, ist wahrscheinlich die Verbreitung der Rechtsradikalen und die Populisten. Das ist aber leider auf der ganzen Welt fast so, als wären das Absprachen, das sind aber keine Absprachen, es entsteht von sich aus. Es gibt einen Bolsonaro, einen Trump, einen Kim Yong-Un, es ist alles zusammengewürfelt. In China wollen wir nicht vergessen, dass sich Xi Jinping auch auf Lebenszeit installieren lassen hat. Wir haben auch die kommunistischen Systeme, zum Beispiel Venezuela, wo man auch alles wiedererkennt, was man aus Diktaturen weiß. Wir haben einen Putin, der alles zurückdreht in die stalinistische Zeit, was auch schrecklich ist. Und dann vergleicht man das alles mit dem hiesigen Land: Jetzt mit Corona denke ich oft, dass es gut ist, dass wir unterrichtet werden durch die Virologen. Es ist ja das Virus, das uns zusetzt oder diktiert, was wir dürfen und was nicht. Und es ist keine politische Geschichte. Diese Vermengung finde ich auch sehr, sehr gefährlich: Dass dann Leute herumlaufen und von Diktatur sprechen. Diktatur ist etwas anderes und das ist politisch und das ist absichtlich, planmäßig durchgeführte Unterdrückung. Das Virus ist für uns alle gleich wichtig, und wir müssen uns alle schützen. Solche Sätze können nur Leute von sich sagen, die keine - Gott sei Dank! - Erfahrung mit Diktatur haben.

Was machen Sie, wenn Sie gerade nicht an Romanen und Collagen arbeiten?

Ich mache das, was alle anderen Menschen auch machen. Ich lese, gehe spazieren, kaufe ein, koche oder esse, aber ich arbeite fast jeden Tag. Es gibt ja auch einen Halt. Ich muss jeden Tag aber ebenso mit Wörtern zu tun haben, sonst habe ich keinen inneren Halt.

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