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Neue Ernsthaftigkeit

Die Literaturwissenschaften entdecken die gesellschaftspolitische Verantwortung.

  • Marcel Lepper
  • Lesedauer: 6 Min.

Nous, princesses de Clèves»: In dem 2011 erstaufgeführten Dokumentarfilm von Régis Sauder tauchen Schülerinnen und Schüler aus einer Vorstadt von Marseille in die Buchstabenwelt des 17. Jahrhunderts ein. «Leichte Texte für schwierige Kinder - ich hasse das!», sagt eine der Schülerinnen. Wenn sie über die historische «Princesse de Clèves» und ihre eigene Rolle nachdenkt, dann argumentiert sie gegen stigmatisierende Sonderprogramme, gegen einen pädagogischen Rassismus, der Kindern mit Migrationshintergrund den westeuropäischen Kanon nicht zumuten will. Sie beschämt in ihrer Ernsthaftigkeit den kulturpolitischen Zynismus, der ihre Generation aufgibt.

Wenige Jahre zuvor hatte Nicolas Sarkozy in der «Princesse de Clèves» die Übelstände französischer Bildungspläne verkörpert gesehen. Ein schlecht gealterter Roman für ein staatlich erzwungenes Publikum? Eine vergilbte Welt von vorgestern, die auf aktuelle politische und ökonomische Fragen keine Antwort mehr gibt? Sarkozy hatte die populäre Geste gesucht - und nicht bloß auf neoliberale Forderungen nach Verschlankung der Prüfungsprogramme kalkuliert, sondern durchaus auch auf die Kanonkritik der linken Reformuniversitäten. Er hatte sich verschätzt.

Der Autor
Marcel Lepper, geb. 1977, ist seit 2020 Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar und lehrt Literaturwissenschaft an der Universität Stuttgart. Zuletzt erschien, herausgegeben von einem Kollektiv junger Literaturwissenschaftler*innen: Literaturtheorie nach 2001 (Matthes & Seitz 2020).

Dass die «Princesse de Clèves» nicht allein eine schmale Bildungselite hinter sich versammeln, sondern protestierende Studierende auf die Straße treiben konnte, stellte die abfällige Äußerung aus dem Élysée unter Beweis. Ein Dauerlesungsspektakel war die Folge. Solche Begeisterung hatte der Roman, dessen Autorin, Marie-Madeleine de La Fayette, sich 1678 noch nicht auf das Titelblatt wagen durfte, zuletzt in den Jahren nach der Publikation hervorgerufen.

Angriffe und Abgesänge begleiten die Welt der Buchstaben so zuverlässig wie Euphorie und Rettungsversuche. Überzeugend rekonstruiert hat William Marx vom Collège de France dieses Wechselverhältnis in seinem Essay «La Haine de la littérature». 224 Seiten, im französischen Original vor fünf Jahren erschienen, warten auf ihre deutsche Übersetzung - und auf eine Lösung für den Genitiv: Hass der Literatur? Literaturhass! Nicht über «hate speech» denkt Marx nach, sondern über die Geringschätzung und Zerstörungswut, denen sich alles ausgesetzt sieht, was gemeinhin «Literatur» heißt - keineswegs erst seit Sarkozy, sondern bereits seit Platon: philosophisch grundiert oder politisch verkürzt, religiös oder erzieherisch, progressiv oder reaktionär. Am Ende ergeht es den Verächtern der Literatur wie den Fans der «Princesse de Clèves»: In der polemischen Aufstellung wird ihre große Zahl sichtbar.

Sind es diese agonalen Bedingungen, die in den literarischen Fächern für einen Umschwung gesorgt haben? Jeffrey J. Williams, der an der Carnegie Mellon University forscht, spricht von «Neuer Bescheidenheit». Damit meint er ein wiedererwachtes Interesse an Archivstudien, an Sozial- und Buchgeschichte, das sich von den umfassenden Deutungsansprüchen der vergangenen Jahrzehnte abgrenzt.

In der Tat: Die Literaturtheorie, in erster Generation eine männliche Domäne, hat erhebliche Teile des Felds aufgegeben. Dass ihre spekulative Geste keinen Kredit mehr bekommt, liegt nicht nur am Ergebnisdruck, der auf Studiengängen und Forschungsprojekten lastet. Sie hat ein genuines Glaubwürdigkeitsproblem: Sie analysierte die Mechanismen der sozialen Ausgrenzung, aber formulierte elitär. Sie predigte Differenz, aber trat selbst dogmatisch auf. Als bekannt wurde, dass Paul de Man, ein renommierter Theoretiker, in seinem ersten Leben antisemitische Texte für die Kollaborationspresse verfasst hatte, war das erst der Anfang. Der Kurs der Literaturtheorie, die sich nicht mit genauer Arbeit an der Überlieferung zufriedengegeben hatte, brach ein.

Wer aber dachte, dass nun die redliche Detailarbeit in den Bergwerken der Überlieferung beginnen würde, lag falsch. Die These von der «Neuen Bescheidenheit» erfasst nur die halbe Wahrheit. Zwar vermitteln Listen von Dissertationsthemen und Inhaltsverzeichnisse von Fachzeitschriften den Wandel vom ambitionierten Jargon zur begrifflich sortierten Praxis, von der Zeichentheorie zum Manuskript, von der Selbstbezüglichkeit zum Material. Zur gleichen Zeit aber, in der die Generation der Meistertheoretiker abtrat, überraschte der Siegeszug der digitalen Technologien.

Lange noch überwog in den Literaturwissenschaften die Überzeugung, dass es sich dabei um eine bloße Erweiterung der Schreib- und Lesepraxis, um einen Wechsel der Speichermedien handeln würde. Doch nach der Jahrtausendwende setzte sich schrittweise die Erkenntnis durch, dass sich auch die Analyseverfahren unter digitalen Bedingungen massiv verändern würden. Wer die flächendeckenden Untersuchungen nicht komplett den Datensammlungen privatwirtschaftlicher Vertriebsplattformen überlassen will, muss sich darauf einstellen, dass in den Literaturwissenschaften kluge Ideen zu schwierigen Textstellen nicht mehr genügen werden. Dass aber die datenintensive Forschung konstitutive Bereiche wie Edition oder Metadatenanalyse, die jahrelang im Schatten lagen, in den Kern der Fächer manövriert, geht unter dem Stichwort «Neue Bescheidenheit» nicht durch. Zu groß ist die Datenmenge, zu euphorisch der technologische Aufbruch.

Wenn der Spätherbst der Literaturtheorie und der Vorfrühling der digitalen Literaturwissenschaften historisch zusammenfallen, dann liegt die «Neue Bescheidenheit» in der kritischen Einordnung: Die bloße Bereitstellung gescannter Bücher oder digitaler Volltexte ist kein literaturwissenschaftliches Ziel, zuweilen nicht einmal ein Mittel, sondern ein Prozess mit Möglichkeiten und Risiken.

Wie viel integratives Potenzial, wie viel kruder Sozialdarwinismus steckt in gefeierten Studien zur Durchsetzung literarischer Genres, wie Franco Moretti, Stanford, sie vorgelegt hat? Im schlimmsten Fall rutscht die digitale Goldgräberstimmung in die verschärfte Segregation ab: eine Trennung der wenigen, die das Rennen im digitalen Showgeschäft machen, von den vielen, die sich vom Big Business der Datenströme abgehängt sehen. Im besten Fall hingegen führt die digitale Transformation zur Erweiterung methodischer Kompetenzen und zu einer vertieften Reflexion der globalen Bedingungen von wissenschaftlicher und kultureller Teilhabe.

Neben den digitalen Komplex tritt der gesellschaftspolitische: In diesem Punkt trägt das Stichwort von der «Neuen Bescheidenheit» noch die Signatur der sogenannten Entideologisierung. Das war vor den Mobilisierungseffekten der Neuen Rechten in Westeuropa, vor der Demontage rechtsstaatlicher Strukturen in einigen osteuropäischen EU-Staaten, vor den Debatten um «Blasen» und Manipulation in den sozialen Medien.

Heute aber finden sich amerikanische und europäische, westafrikanische und indische Literaturdepartments nicht in einer Beschreibung wieder, der zufolge der Anspruch auf gesellschaftlichen Wandel zugunsten belangloser Fachstudien aufgegeben worden sei. Von «Black Lives Matter» bis zu genderpolitischen Fragen, von der Provenienzproblematik bis zur Dekolonisierung der Sprache - die literaturwissenschaftliche Arbeit ist begrifflich engagiert wie seit Jahrzehnten nicht. Kritiker sprechen von einer «Ethisierung des Kulturellen», Vordenkerinnen von der Notwendigkeit neuer aktivistischer Formen.

Der Formbegriff führt auf überraschendem Weg zurück ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Arbeit. Wäre die «Princesse de Clèves» nur eine Folie für identifikatorische Rollenspiele, dann hätten die Fächer seit ihrer Gründung zu wenig gelernt. An die Stelle der chauvinistischen Muster wären bloß neue Schablonen getreten. Literaturwissenschaftlerinnen haben in den vergangenen Jahren Aufmerksamkeit in den «missing link» zwischen formalen Beobachtungen und deren sozialen Umgebungen investiert. In ihrem Buch «Forms» sucht Caroline Levine nach Modellen, die simple Einfluss- und Widerspiegelungsschemata ersetzen können. Sharon Marcus und Stephen Best fragen nach der Komplexität von Oberflächen. Sie lenken den Blick auf das literarische Faszinosum, auf die Gestaltung der Texte. Neue Bescheidenheit ist das nicht, eher neue Ernsthaftigkeit - auf dem Campus von Spitzenuniversitäten wie in der Vorstadt von Marseille.

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